Bittere Mandeln
an. Ich wußte nur sehr wenig über die altmodischen Orte, wo die Menschen das Abendessen aus dem Meer holten und den Seetang im eigenen Garten trockneten, aber jener Fischerort erschien mir eine bessere Welt als jene zu sein, in der ich selbst lebte. Wenn Onkel Hiroshi und Tante Norie ihr Haus verkauften und aufs Land zogen, hatten auch sie eine Chance auf ein neues Leben. Hiroshi konnte seine Tage mit Fischen verbringen und Norie sich um den Garten kümmern. Ihre Gebete würden sie in einem kleinen Tempel verrichten, vor dem sich nicht der Abfall türmte. Und wenn dieses neue Zuhause ein paar hundert Kilometer von Tokio entfernt lag, würden sie sich niemals mehr in mein Leben einmischen.
Ich lächelte spöttisch, doch dieses Lächeln gefror mir auf den Lippen, als eine gertenschlanke Frau an mir vorbeikam. Sie ging ein wenig vornüber gebeugt, wie es junge Mädchen oft tun, die ihre Größe oder ihren knospenden Busen verbergen wollen. Ich erkannte die Frau sofort: Es war Mari Kumamori, meine schüchterne Mitschülerin aus der Kayama-Schule.
Offenbar dachten die Zuschauerinnen, die hinter Mari das Kino verließen, ich hätte sie angelächelt, denn sie verbeugten sich kurz, was wiederum mich zu einer Verneigung zwang und letztendlich für heillose Verwirrung sorgte. Ich reihte mich auf dem Gang hinter ihnen ein, um Mari nicht aus den Augen zu verlieren.
Draußen vor dem Kino sah ich, wie sie langsam in Richtung Ebisu Station ging. Ich wollte sie nicht erschrecken, hatte aber Angst, daß sie plötzlich im Gedränge der abendlichen Rush-hour verschwand. Also rannte ich durch den Nieselregen, ohne vorher den kleinen Taschenschirm aus meinem Rucksack zu holen. In der vergangenen Woche hatte ich mich kaum bewegt, und die körperliche Ertüchtigung tat mir gut. Als ich Mari einholte, war ich nicht einmal außer Atem.
»Kumamori-san«, rief ich, und sie drehte sich um.
»Miss Shimura.« Sie wirkte überrascht und nicht sonderlich glücklich.
»Ich glaube, wir waren gerade im selben Film.«
»In Mabaroshi no Hikari?« Als ich nickte, sagte sie: »Ich habe mir heute insgesamt drei Filme angeschaut. Ich weiß, es ist eine sehr faule Art, den Tag zu verbringen, aber heute hat kein Ikebana-Kurs stattgefunden, und ich war einfach nicht in der Stimmung zum Töpfern.«
»Schade, daß Sie nicht die Kraft zum Arbeiten hatten. Manchmal habe ich auch einen schlechten Tag, und dann mag ich überhaupt nichts mit Antiquitäten zu tun haben. In so einem Fall ist es gut, sich ein wenig frei zu nehmen.«
»Ich spiele mit dem Gedanken, ganz mit dem Töpfern aufzuhören«, sagte sie. »Sie haben ja gesehen, wie der iemoto meine Gefäße zertrümmert hat. Die meisten meiner Sachen hätten es verdient, so zu enden. Sakura Sato hat mir einmal gesagt, wenn ich meine Töpferwaren einem guten Zweck zuführen wolle, solle ich alles zerschlagen und die Scherben zur Förderung des Wasserabflusses auf den Boden von Blumentöpfen legen.«
Ich hätte ihr sagen können, daß Sakura sie nur ärgern wollte, aber mittlerweile begriff ich Maris Wesen ein bißchen besser. Sie würde sich ihr ganzes Leben lang wie ein winziger Wurm fühlen. Also dachte ich einige Zeit nach, bevor ich meine Bitte aussprach: »Ich habe auch ein Problem. Ich weiß nicht weiter. Eigentlich kann ich nur Sie in dieser Sache um Hilfe bitten.«
»Es fällt mir schwer zu glauben, daß jemand wie ich anderen helfen könnte, aber sagen Sie mir ruhig, was Sie brauchen.« Mari blieb wie erwartet stehen. Ein Pendler hastete vorbei. Dabei schwang seine Aktentasche aus und knallte gegen Maris Unterleib. Ich bedachte ihn mit einem bösen Blick, während Mari versuchte, das Gleichgewicht zurückzuerlangen.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich Sie in Ihrem Töpferatelier besuchen dürfte, denn ich bin gerade dabei, mich über einen Satz Teller zu informieren, den ich zu verkaufen versuche. Sie sammeln doch Keramik aus allen Epochen. Wenn ich also meine Teller mit Ihren Stücken vergleichen könnte, würde ich sie besser einschätzen können. Ich habe schon versucht, etwas Ähnliches in den Läden zu finden, aber …« Mit einer leichten Handbewegung deutete ich Verzweiflung an.
»Aus welcher Epoche sind Ihre Teller denn?« fragte Mari. Ihre Augen waren ein bißchen feucht, vielleicht vor Aufregung. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, mit welcher Leidenschaft sie sammelte.
»Das weiß ich nicht so genau«, wich ich aus. »Deshalb würde ich sie Ihnen gern bringen. Wenn Ihnen der
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