Bittere Mandeln
liefen mit Taschenlampen die Straße entlang. Mehrere Schmerzensschreie bewiesen, daß die Nägel sich auch durch ihre Schuhe bohrten.
»Halt!« rief Sergeant Mori. »Wir brauchen einen großen Scheinwerfer und einen Fotografen zur Dokumentierung des potentiellen Tatorts. Fürs erste bleibt das Areal abgesperrt.«
»Ich mache die Fotos!« rief ein betrunkener Kirschblütenbewunderer und wedelte mit seiner schicken Digitalkamera in der Luft herum.
»Mr. Kayama, würden Sie Mr. Ishida zum Krankenhaus begleiten und auch Ihre eigenen Verletzungen ansehen lassen?« fragte Sergeant Mori.
Ich schaute zu der Stelle hinüber, wo sich kurz zuvor noch die Tragbahre mit Mr. Ishida befunden hatte, aber die war mittlerweile im Notarztwagen verschwunden. Die Türen hatte man bereits geschlossen. Ich hatte ihn ausgerechnet in dem Moment aus den Augen verloren, in dem er mich am dringendsten brauchte.
»Ich würde lieber nach Hause fahren«, sagte Takeo.
»Ich kann Ihre Familie benachrichtigen«, beharrte der Sergeant.
»Nein!«
»Wie wollen Sie denn nach Hause kommen?« fragte Sergeant Mori. »Mit Ihrem Wagen können Sie nicht fahren.«
»Ich nehme ein Taxi oder die U-Bahn. Was näher ist.« Takeo wollte offenbar keinesfalls ins Krankenhaus. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Mr. Ishida dorthin zu folgen, doch jetzt überlegte ich es mir anders. Mein Freund hatte ein blaues Auge und würde sich schon bald in der Obhut fähiger Ärzte befinden. Takeo hingegen, der sich gegen jede medizinische Untersuchung wehrte, war möglicherweise das größere Risiko. Vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung oder eine andere Kopfverletzung.
Ich versprach Sergeant Mori, auf Takeo aufzupassen, und führte ihn den Weg zurück, den ich gekommen war, immer dicht an den Hauswänden entlang, um nicht auf Nägel zu treten. Sergeant Moris Assistenten machten sich unterdessen in der näheren Umgebung auf die Suche nach dem Lieferwagen, der natürlich längst über alle Berge war.
Takeo ging mit ganz normaler Geschwindigkeit, bis weder Polizisten noch Sanitäter oder Kirschblütenfanatiker ihn sehen konnten. Dann blieb er stehen und lehnte sich an eine Hauswand.
»So gut geht’s Ihnen also doch nicht«, sagte ich ein wenig nervös. Er hätte wirklich ins Krankenhaus mitfahren sollen. Vielleicht brach er mir hier in dieser Gasse zusammen, und ich hatte nicht die Kraft, einen einsfünfundsiebzig großen Mann, der wahrscheinlich über achtzig Kilo wog, zu tragen.
»Ich bin nur ein bißchen zittrig und möchte mich einen Moment ausruhen.«
Am besten wäre es gewesen, wenn er sich hätte hinlegen können. Leider gab es in der Nähe nur einen Ort, wo das möglich war. »Sie können sich bei mir in der Wohnung ein bißchen ausruhen. Später kann ich Ihnen dann ein Taxi bestellen.«
»Ich muß zurück ins Kayama Kaikan. Da wartet jede Menge Arbeit auf mich.«
»Sie wären eben fast gestorben!« erinnerte ich ihn, während wir weitergingen.
»Diese Beschreibung, die Ishida-san mir von der Frau gegeben hat, läßt mir einfach keine Ruhe.« Wir standen jetzt vor dem Family Mart, und die Neonwerbung darüber warf häßliche Schatten auf sein kantiges Gesicht. Durchs Schaufenster konnte ich sehen, daß Mr. Waka gerade eine lebhafte Diskussion mit einem Kunden in der Süßwarenabteilung führte.
»Glauben Sie, daß es Sakura Sato war?« fragte ich ihn ganz direkt.
Er schüttelte den Kopf.
»Wer dann?« Wir gingen wieder ein Stück weiter, obwohl Takeo immer noch ziemlich wackelig auf den Beinen war. Er wehrte sich nicht, als ich ihn stützte.
»Es klingt verrückt. Besonders jetzt, wo ich gerade einen Unfall hinter mir habe. Bestimmt glauben Sie mir nicht«, sagte Takeo hastig.
»Raus mit der Sprache«, sagte ich.
»Als Ishida-san den alten Kimono erwähnt hat, den die Frau trug … Nun, nachdem Sie mir den Hintergrund erklärt hatten, das Alter des Stoffes und so weiter, habe ich begriffen. Meine Mutter hat alte Textilien und Schriftrollen gesammelt, genau wie Sie.« Er blieb wieder stehen, um sich an einen Getränkeautomaten zu lehnen. »Auf dem Bild, das ich Ihnen von ihr gezeigt habe, trägt sie einen gelb-orangefarbenen Kimono aus der Showa-Zeit.«
Deshalb also hatte Takeo mich so vielsagend angesehen, als Mr. Ishida den Kimono beschrieb. Und ich hatte gedacht, daß er nur mehr über die Geschichte japanischer Textilien erfahren wollte. Allmählich fügte sich alles zu einem Bild. »Dann hat also jemand den Kimono Ihrer Mutter
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