Bittere Pille
der Tasche
nach dem Schlüssel zu Stefans Wohnung. Natürlich
hätte sie heute genauso gut in ihre eigene, kleine Bleibe an
der Germanenstraße in Wichlinghausen fahren können, doch
sie sehnte sich nach Stefan. Es gab viel zu erzählen, und sie
hatte ihn schon viel zu lange nicht gesehen.
Als sie die Wohnung
aufschloss, stellte sie ein wenig enttäuscht fest, dass Stefan
nicht zu Hause war. Sie begab sich in die Küche und schaltete
das Radio ein. Wie immer war das kleine Gerät auf die Frequenz der
Wupperwelle eingestellt. Heike wurde müde, doch sie konnte
noch nicht schlafen gehen. Es gab noch viel zu tun. So setzte sie
sich einen frischen Kaffee auf. Als die Kaffeemaschine blubberte,
holte sie Stefans Laptop aus dem Schlafzimmer und fuhr das System
hoch. Währenddessen blätterte sie in den Unterlagen, die
Kalla ihr ausgedruckt hatte. Die Papiere waren Zündstoff pur.
Wenn das, was in Borns Listen stand, ans Tageslicht gelangte, hatte
Deutschland einen neuen Skandal. Born war also gestorben, weil er
einflussreichen Leuten zur Gefahr geworden war. Nach ihm waren alle
ermordet worden, die auch nur ansatzweise mit dem Fall zu tun
gehabt hatten. Jemand ging über Leichen. Heike erschauderte.
Der Gedanke, dass Stefan, sie und auch Kalla von der Korruption
wussten, führte zu dem einfachen Schluss, dass sie alle auch
in Lebensgefahr waren. Wenn es tatsächlich jemanden gab, der
die Spur zurückverfolgte, würde dieser Jemand
zwangsläufig bei ihnen landen.
Heike ging zurück
in den Flur und schloss die Wohnungstür ab. Sicherheitshalber
legte sie die Türkette vor. Das metallische Rasseln bohrte
sich in ihren Schädel. Als sie ein knackendes Geräusch
vernahm, setzte ihr Herzschlag sekundenlang aus, und Heike
fühlte sich wie in der Falle. Befand sich jemand in der
Wohnung? »Hallo?«, rief sie in die Stille.
Natürlich bekam sie keine Antwort, doch sie war sicher, dass
sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte. Heike nahm all
ihren Mut zusammen und durchwanderte die ganze Wohnung und
versicherte sich, dass alle Fenster geschlossen waren. Doch sie war
definitiv alleine in der Wohnung. Nachdem sich ihre Nerven ein
wenig beruhigt hatten, rief sie sich den Umstand ins
Gedächtnis, dass sich Stefans Wohnung in einem alten Haus aus
der Gründerzeit befand. Obwohl die Fassaden und Decken
aufwendig mit Stuck verziert waren, so hatte man im 19. Jahrhundert
mit Holz gebaut. Es gab echte Dielen und Zwischendecken im ganzen
Haus. Und Holz arbeitete nun mal. Dabei knackte es auch ab und zu.
Sie war sich sicher, dass es sich bei dem Geräusch, das sie gehört
hatte, um das Knacken einer Diele gehandelt haben musste, und
atmete tief durch. Im Wohnzimmer trat sie ans Fenster und blickte
hinunter auf die Straße. War ihr der Mörder bereits auf
den Fersen? Saß er in einem der geparkten Autos und lauerte
nur auf eine Gelegenheit, zuschlagen zu können?
Heike erschauderte bei
dem Gedanken.
Sie zuckte zusammen,
als sie im Hauseingang gegenüber eine Bewegung wahrnahm.
Nichts als einen huschenden Schatten, der sich ins Dunkel der
Haustüre drückte. Heike stand minutenlang regungslos am
Fenster und versuchte, mit Blicken die Dunkelheit zu durchdringen.
Immer wieder glaubte sie, auf der anderen Straßenseite eine
Bewegung wahrzunehmen. Irgendwann löste sich die Gestalt aus
dem Dunkel. Es waren zwei Personen, ein junges Paar. Eng
umschlungen setzten sie ihren Weg in Richtung Luisenstraße
fort, blieben immer wieder stehen und küssten sich
leidenschaftlich.
Heike seufzte und kam
sich plötzlich furchtbar albern und hysterisch vor.
Erst jetzt bemerkte
sie, dass sie am Fenster eines hell erleuchteten Zimmers
förmlich auf dem Präsentierteller stand. Sie atmete tief
durch und zog die Gardinen ruckartig zu. Sie holte sich das Telefon
aus der Ladestation und tippte Kallas Handnummer ein. Es dauerte
nicht lange, bis er sich meldete. Stichwortartig berichtete Heike
ihm, was sie dachte. »Pass bloß auf dich auf, Kalla.
Wir sind Insider und wissen jetzt das, was schon Peter Born, seiner
Frau und auch schon deinem Kollegen zum Verhängnis wurde.
Dieser Killer hat keine Hemmungen, jeden aus dem Weg zu
räumen, der zu viel weiß.« Mit dem schnurlosen
Gerät am Ohr wanderte sie durch die leere Wohnung und
erreichte schließlich die Küche, wo sie sich am Tisch
niederließ.
»Mach dich nicht
verrückt, Mädchen.« Kallas Bass klang
väterlich und beruhigend. »Mich haut so schnell nichts
um. Aber was ist mit dir, hast du Angst? Dann
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