Bittere Pille
gut?« Eine freundliche Stimme, männlich,
besorgt.
Sie schlug die Augen
auf und drehte den Kopf nach links. Neben ihr stand ein schlaksiger
junger Mann mit einer etwas veralteten Igelfrisur. Er trug einen
Overall in den Farben des Mineralölkonzerns, zu dem diese
Tankstelle gehörte. Anscheinend handelte es sich bei dem
jungen Mann um den Tankwart. Der Mann im blauen Overall beugte sich
zu ihr in den Wagen und lächelte sie an. Er bleckte strahlend
weiße Zähne. Sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig.
»Es geht schon
wieder, danke.« Sie lächelte, sie versuchte zu
lächeln. Sollte sie diesem wildfremden Mann jetzt ihre halbe
Lebensgeschichte erzählen, damit er verstand, warum sie sich
mies fühlte? Warum sie sich schreckliche Vorwürfe
machte?
Es ging ihn nichts an,
und sie entschied sich für die simplere Variante. »Mir
ist übel geworden, und ich musste anhalten. Aber es geht schon
wieder.« Das war nicht einmal gelogen. Jetzt stieg sie aus,
zitterte am ganzen Leib, lehnte sich rücklings an den Wagen.
Dann deutete sie mit dem Daumen ins Innere des Wagens. Das Radio
dudelte noch. »Eine Frage habe ich
trotzdem.«
»Schießen
Sie los.« Er lächelte immer noch. War das sein
Berufslächeln, oder war der Knabe tatsächlich immer so
freundlich? Vermutlich hoffte er, dass er nach dem Öl und dem
Kühlwasser schauen durfte und dafür ein üppiges
Trinkgeld einnahm. Doch der Wagen war in Ordnung, denn bevor sie
die Reise nach Wuppertal angetreten hatte, war der Wagen zur
Inspektion in ihrer Werkstatt gewesen.
»Was ist das
für ein Sender? Ich habe den Namen noch nie
gehört.« Der Tankwart beugte sich in das Cockpit und
blickte auf das Radio. Dann erschien sein immer noch
lächelndes Gesicht wieder vor ihr.
»Das ist Radio
Berg-Land. Ein privater Sender. Das Studio ist hier in
Solingen.«
»Wo
genau?«
Der
dauerlächelnde Tankwart ließ sich seine Verwunderung
nicht anmerken und nannte ihr die Anschrift des Senders. »Ich
wohne da gleich um die Ecke, deshalb weiß ich das so
genau.«
»Danke.«
Jetzt brachte sie ihrerseits ein unverbindliches Lächeln
zustande und deutete auf den Tankstellenshop. »Ich werde mich
jetzt mit Mineralwasser und einer Kleinigkeit zu essen versorgen,
dann etwas Luft schnappen, und danach geht es
weiter.«
»Und Sie sind
sicher, dass Sie sich das Zutrauen?« Das
Dauerlächeln war einer besorgten Miene
gewichen. Er umrundete ihr Fahrzeug und warf einen Blick auf das
Kennzeichen. »Es ist nicht gerade ein Katzensprung bis
Koblenz.«
»Das ist
wirklich kein Problem«, sagte sie schnell. »Ich habe
mir wahrscheinlich im Hotel den Magen verdorben.« Wieder log
sie nicht, doch lag ihre Magenverstimmung nicht am schlechten Essen
der Hotelkette, sondern an ihrer Whiskyorgie. Nie wieder würde
sie einen Tropfen Alkohol anfassen, das schwor sie sich in diesem
Augenblick. Als sie an Whisky dachte, wurde ihr sofort wieder flau
im Magen. Sie verdrängte den Gedanken an die letzte Nacht.
»Ich muss weiter«, murmelte sie, schloss den Wagen ab
und verschwand im Gebäude der Tankstelle, um sich mit
Reiseproviant einzudecken.
Sie hatte noch etwas
zu erledigen, bevor sie nach Koblenz fuhr.
19
Solingen, 15:10
Uhr
Sie hatte die Autobahn
an der nächsten Ausfahrt verlassen und war über die B 229
auf die Hardtstraße gekommen. Bis zum Sender in der
Alleestraße war es eine gute Viertelstunde Fahrt gewesen.
Langsam nur hatte sie sich beruhigt. Vielleicht sollte sie doch die
Polizei einschalten? Sie würde sich melden müssen. Wenn
es sich bei dem Toten tatsächlich um Peter handelte,
würde es zu einer Identifikation der Leiche kommen. Es graute
ihr bei der Vorstellung, dass sie ihren Mann tot auf einer kalten
Bahre in einem Obduktionssaal identifizieren musste. Ein Schauer
lief ihren Rücken herunter, und sie versuchte den Gedanken an
die Identifizierung ihres Mannes zu
verdrängen.
Das Gebäude aus
den Achtzigern erinnerte eher an einen nüchternen
Bürokomplex als an ein Sendestudio, doch sie hatte keine
Ahnung, wie ein Sender eigentlich aussehen sollte, um ihren
Idealvorstellungen zu entsprechen. Mit dem eingebauten Navi war es
ein Leichtes gewesen, die Alleestraße in Solingen zu finden.
Den Wagen hatte sie am Straßenrand geparkt, und jetzt blickte
sie an der
Front des zweistöckigen Hauses empor. Der Architekt hatte das
Haus aus einer Mischung von klassischen bergischen Stilelementen
und einer eleganten Moderne erdacht - die weiß leuchtende
Fassade war immer
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