Bittere Sünde (German Edition)
geworden war. Doch viel Zeit, darüber nachzudenken, blieb ihm nicht, denn der nächste Laubenpieper klopfte schon an die Tür.
28
Der Staub hing wie dichter Nebel über der Fahrbahn, und die Straßenhunde bellten wie verrückt, als Osvaldo Ortiz mit seinem Polizeiauto vorbeidonnerte. Er fuhr geradewegs durch das Bergdorf Chuquis. Hier war es kühler als in La Rioja. Das Dorf lag unmittelbar am Fuße der Anden, die weißen Häuser wirkten wie kleine Papierschnipsel vor den gigantischen rotbraunen Bergen im Hintergrund.
Ortiz warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte keine Zeit verloren, gerade mal zehn Minuten nach Hulda Estrabous unerwartetem Besuch hatte er sich auf den Weg gemacht.
Es war ein verwirrendes Zusammentreffen gewesen. Begonnen hatte es damit, dass Hulda sehr bestimmt die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufstieß.
»Mein Mann ist ein Lügner«, hatte sie mit lauter, dramatischer Stimme verkündet.
Eine kleine Ader an ihrer Schläfe hatte wie wild gepocht, während sie im gleichen theatralischen Tonfall ihre Aussage gemacht hatte. Ortiz versuchte, sich an ihre Worte zu erinnern, während er den Berg hinauffuhr.
»Mein Mann hat Ihnen erzählt, dass er nicht weiß, wo Domenique sich aufhält. Dabei weiß er das ziemlich genau, aber er schämt sich für sie. Er findet, sie ist leichtsinnig und meint, dass das, was ihr vor vielen Jahren zugestoßen ist, ihre eigene Schuld war.« Ihr Gesicht hatte sich verfinstert. »So ist er, müssen Sie wissen. Hart und unversöhnlich. Domenique hat uns vor vielen Jahren einen Brief mit ihrer Adresse geschickt. Sie wollte den Kontakt wieder aufnehmen.«
Ortiz hatte gefragt, ob sie den Brief noch hatte, doch Hulda schüttelte daraufhin nur den Kopf.
Nach ihrer Aussage war sie zusammengesackt und sah plötzlich niedergeschlagen aus, als bereute sie, ihren Mann hintergangen zu haben. Doch dann sprach sie: »Ach, wie auch immer. Mein Mann ist wirklich ein Idiot.«
Danach hatte sie Ortiz’ Hand genommen und sie gedrückt. »Tun Sie, was Sie können für Domenique. Sie hatte es nicht leicht.«
29
Dass ihre Schwägerin bei Ortiz gewesen war, wusste Domenique Estrabou natürlich nicht. Sie lag ausgestreckt in ihrer Hängematte und blinzelte in den blauen Himmel. Um die grellen Sonnenstrahlen abzuschirmen, hatte sie eine Hand an die Stirn gelegt. Es war eine vernarbte Hand, voll von Falten und Spuren, die auf das schwere Leben verwiesen, das hinter ihr lag. Doch gerade konnte sie eigentlich nicht klagen. Ihr Vorratsschrank war prall gefüllt, auf ihrem Konto sah es ähnlich gut aus.
Vielleicht bekam jeder bei der Geburt einen Satz guter und schlechter Karten, und es hing einfach nur daran, wie klug man sie ausspielte, überlegte sie. Der Gedanke, dass jeder Mensch sein Schicksal selbst beeinflussen konnte, munterte sie auf, obwohl ihr eigener Lebensweg steinig gewesen war. Ihre Vergangenheit holte sie jedes Jahr mehrmals ein. Meist zum ungünstigsten Zeitpunkt, so wie jetzt, wenn eigentlich alles im grünen Bereich war. Fast schien es, als würde sie es sich selbst nicht gestatten, zu genießen. Oder als würde sie sich einfach nicht trauen, sich zu entspannen.
Sie schloss die Augen. Erinnerte sich, obwohl es wehtat. Sie hatte im eleganten Wohnzimmer gesessen, als ihr Vater mit zwei schwedischen Männern nach Hause gekommen war. Der eine klein und grau, aber der andere, Gösta, auffallend schön mit seinem blonden Haar und den blauen Augen. Sie war sofort rot geworden, sobald er sie angeschaut hatte.
Am Nachmittag war die Spannung so extrem geworden, dass sie das Gefühl hatte, zu explodieren. Der graue Mann erzählte, ein Großteil der Schienen, die sie verlegt hatten, sei bereits wieder gestohlen und vermutlich längst verscherbelt worden, doch so richtig hatte sie nicht folgen können, dafür war sie viel zu aufgeregt gewesen.
Am Tag darauf hatte sie ihre Schuluniform angezogen und dabei einfach mal vergessen, die obersten beide Knöpfe der Bluse zuzumachen. Außerdem hatte sie sich heimlich am Rouge ihrer Mutter bedient. Die Luft flimmerte vor Hitze, als sie am Marktplatz auf ihre Freundin Maria traf. Die beiden Mädchen kicherten wie verrückt, während sie die Straße überquerten und die weiß getünchten Wohnhäuser der anderen Seite passierten.
Schnell hatten sie die Häuser umrundet und liefen über die sich dahinter erstreckenden Felder. Domenique konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie das trockene Gras und der harte Lehm unter ihren Schuhsohlen
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