Bitterer Jasmin
Intellektuelle aus ähnlichem Elternhaus wie seinem, und dann begann die erste tiefe Beziehung seines Lebens. Andrew Barnes wurde sein Berater für politische Wissenschaften. Er war sechsundzwanzig Jahre, Peters gerade achtzehn. Barnes war zart gebaut und hinkte; als Junge hatte er Kinderlähmung gehabt. Er war ruhig und ernsthaft, sein Humor größtenteils Selbstironie. Im Gegensatz zu ihm war sein Lieblingsstudent kräftig, begabt für Athletik jeder Art; vor allem ins Fußballteam hätte er neuen Wind bringen können. So reserviert und still Peters sich verhielt, so gerne redete Andrew Barnes. Er lehrte Peters, Debatten zu genießen, lehrte ihn, zu denken und seine Gedanken auszudrücken. Er half ihm, seine Neigung zu überwinden, sich von Dingen und Menschen, die er nicht mochte, zurückzuziehen, und predigte ihm, daß Änderungen nur durch Attacke zu erreichen seien. Attacke durch Erziehung, Debatte und Ideen, und als letztes Mittel durch Konfrontierung. Barnes war Marxist und hätte empört die Behauptung von sich gewiesen, daß er ein Leben christlicher Selbstlosigkeit führte, völlig dem Wohlergehen anderer gewidmet, ein furchtloser Kämpfer für die Unglücklichen, entschlossen, allem Unrecht entgegenzustehen und für die Verbesserung der Gesellschaft zu arbeiten. Für Barnes bedeutete Gesellschaft soviel wie Menschen. Er war nicht der kalte Intellektuelle, der die Menschheit nur in wirtschaftlichen Begriffen sieht. Für ihn war Politologie das Wissen vom Menschen, und Sorge um die Menschen machte seine politischen Glaubenssätze so absolut rein. Er war der anziehendste Mensch, den Peters je kennen gelernt hatte. Dank seiner Persönlichkeit sammelte sich eine Anzahl Studenten um ihn, und für Peters war das erste Semester in Kent unter Barnes ein Schritt auf der Straße nach Damaskus. Sein Leben lang hatte er sich wurzellos gefühlt, dazu verdammt, alles, was ihm geboten wurde, zurückzuweisen, ohne eine andere Wahl zu haben. Barnes gab seinem Leben eine neue Bedeutung. Am Ende eines Tunnels, der so dunkel und sinnlos erschienen war, leuchtete plötzlich ein Licht. Alle Liebe, die in ihm verschüttet lag, fand jetzt ein Ventil, sprudelte geradezu hervor. Der zarte, leidenschaftliche Lehrer nahm den Platz ein, den seine Eltern leer gelassen hatten. Und da er sich um Lichtjahre von seinem beschränkten, konventionellen Vater entfernt fühlte, mit dem er keinerlei Kontaktpunkte mehr hatte, erwähnte er Barnes zu Hause nie und brachte ihn auch nicht mit seinen Eltern zusammen.
Barnes' Unterricht gab Peters einen neuen Lebensinhalt. Er übernahm dessen politischen Glauben mit der Intensität eines Menschen, der danach gehungert hatte, für irgend etwas kämpfen zu können. Er wäre Andrew Barnes bis in die Hölle gefolgt, und am 18. Juni 1968 kam es praktisch auch so weit. Es begann als Protest gegen den Krieg in Vietnam. Eine Anzahl Studenten waren zum Militärdienst aufgerufen worden, man organisierte ein Treffen, das Barnes leitete. Dann gab es noch weitere Demonstrationen, an denen auch Peters teilnahm. Es folgten Ansprachen, Kampfrufe und schließlich Steinwürfe gegen die Polizei. Mit Schlagstöcken ging man auf die Studenten los, es kam zu Gewalttaten, Verletzten, Flucht und neuer Gruppierung. Als die Nationalgarde herbeigerufen wurde, standen Andrew Barnes und er in den vordersten Reihen. Er erinnerte sich nachher noch, wie die Truppen mit angelegten Waffen auf sie zumarschierten und wie er versuchte, sich vor Barnes zu stellen. Noch ein Angriff mit den Schlagstöcken, schlimmer als beim erstenmal; einige der Studentenreihen gaben nach, Unordnung und Verwirrung entstand, alles rannte in die verschiedensten Richtungen, verängstigte Mädchen schrien schrill. Peters hörte Barnes ihnen noch zurufen, sie sollten durchhalten, dann krachten Schüsse.
Bis die ersten Studenten fielen, dachten alle, die Truppen feuerten nur über die Köpfe der Menge. Nach ein paar Sekunden Stille wurden dann panische Schreckensschreie laut. Andrew Barnes sank, von einer Kugel in die Brust getroffen, zu Boden.
Noch Jahre danach wachte Peters immer wieder aus einem Alptraum auf; er kniete im Schmutz, von flüchtenden, schreienden Menschen umgeben, den Sterbenden in seinen Armen haltend, hörte Andrews Stöhnen, sah das Blut aus seinem Mund strömen und den Kopf plötzlich zurückfallen, wie bei einer Marionette, deren Fäden gerissen sind. Er weinte, als die Polizisten ihn verhafteten. Zu viert mußten sie ihn wegzerren und
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