Bitterer Jasmin
den Toten aus seinen Armen reißen. Er hatte um sich getreten und geboxt, auf dem Weg zum Polizeiwagen, wie ein Verrückter gekämpft.
Dann wurden ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie schlugen ihn in die Nieren und Leisten und prügelten ihn auf der Polizeistation nochmals. Seine Eltern hatten ihn herausgeholt. Als sie ihren zusammengeschlagenen Sohn sahen, nahmen sie sich seiner an, ohne etwas zu fragen oder zu sagen; aber es war schon zu spät. Sie beteiligten sich am Protest gegen die Brutalität der Polizei und die Ermordung der Studenten auf dem Universitätsgelände, aber Peters konnte sich trotzdem in keiner Weise mit ihnen identifizieren. Ihre Betroffenheit, ihr Zorn bedeutete ihm nichts. Der beste Mensch, den er je gekannt hatte, war von jener Gesellschaft getötet worden, die ganze Weltöffentlichkeit verurteilte das Massaker. Peters war wie gelähmt; er blieb in der Klinik und fuhr dann in die Universität zurück, aber es war nicht mehr dasselbe dort, konnte es nicht mehr sein. Der hinkende kleine Mann, der stets mit vorgestrecktem Kopf versucht hatte, mit den schnelleren Studenten Schritt zu halten, fehlte in Peters Leben. Es gab keine abendlichen Debatten mehr, kein Essen bei Barnes mit Gesprächen, die sich bis in die Nacht hineinzogen. Als man in der Presse über Märtyrertum sprach, konnte Peters nur verächtlich lachen. Nichts als ein Klischee; sie hatten Barnes weder gekannt noch geliebt. Nur Peters und die Gruppe um Barnes wußte, welches Verbrechen der Kapitalismus hier begangen hatte. Für die Studenten jener Universität blieb dieser Junitag unvergessen, hinterließ eine bleibende körperliche oder seelische Narbe. Aber die meisten gingen später in die Welt hinaus und wurden von der Gesellschaft absorbiert, die sie nicht hatten ändern können.
Nicht so Peters. Andrew Barnes hatte ihm beigebracht, was menschliche Wärme und uneigennützige Liebe zu den Mitmenschen bedeutete. Die Nationalgarde, die auf ihn zielte und feuerte, lehrte ihn, was es hieß, zu hassen. Zu hassen mit einer erbarmungslosen, unbeirrbaren Intensität, die sich ganz natürlich zu einem Extrem entwickelte, das der sanfte Barnes nie gebilligt hätte. Nur mit Gewalt konnte man die organisierte Gewalt der modernen Gesellschaft bekämpfen. Absolute Unbarmherzigkeit und Hingabe an die Sache waren das Rüstzeug der Revolutionäre, die siegen wollten.
Als Peters graduierte, war er bereits führendes Mitglied der extremistischen Roten Zelle innerhalb seiner Studentenorganisation und stand als Agitator auf der schwarzen Liste. Ohne sich von seinen Eltern zu verabschieden, flog er nach Mexiko. Sie beschäftigten ihn von da an nie mehr, er fühlte sich wie im Exil. Lebte und bewegte sich unter Leuten, die ihm selbst glichen: der Sache ergeben, tüchtig und stets bestrebt, sich für die Arbeit, die sie vorhatten, noch zu vervollkommnen. Peters lernte zu töten, Explosivstoffe anzuwenden, lange Strecken unter ungünstigen Umständen zu reisen. Man schickte ihn nach Chile, wo er wertvolle Arbeit leistete, Sabotage organisierte und den Guerillakampf gegen ein Armeecamp leitete. Er blieb lange genug dort, um noch Allendes Triumph mitzuerleben; als er in Deutschland weilte, war die kurze marxistische Regierungszeit vorüber, die Unterdrücker hatten wieder die Macht errungen. In Bonn entführten er und Madeleine Labouchère eine Lufthansamaschine, töteten einen Steward und verletzten drei Passagiere. Nach längeren Verhandlungen wurden vier palästinensische Terroristen aus dem Gefängnis entlassen und ihm sowie dem Mädchen freies Geleit nach Syrien zugesichert.
Peters blieb einen Moment am Fenster seines Appartements stehen. Die Sonne ließ die Dächer Teherans aufglühen – so weit man blicken konnte, nur Straßen und Häuserblocks, eine hässliche Stadt inmitten einer kahlen Ebene. Das echte Persien hatte er lieben gelernt, mit all seinen unendlichen Verschiedenheiten: die grünenden Nordhänge des Elbrusgebirges, die bis zum Kaspischen Meer reichten, der unglaubliche Frühlingsblumen-Teppich in Kerman – Inspiration der Teppichweber seit tausend Jahren –, die dürren Zagrosberge mit den kleinen grünen Tälern und klaren Bergbächen dazwischen – ein Kontrast, der die poetische Seele des alten Persiens beflügelt und unsterbliche Verse hatte entstehen lassen. Die gnadenlose Hitze der gelben Wüsten, die fast schon unwirkliche Schönheit der Moscheen von Ispahan. Die Wunder von Persepolis, der Metropole des
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