Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Sie tragen den Sarg über die schmale Stiege hinaus. Hell scheint der Vollmond in den Hof. Unsere rotgetigerte Katze huscht zwischen den Beinen der Träger hindurch. Ich folge dem Sarg, und als ich die Augen hebe, sehe ich kurz ein blasses Gesicht am Fenster der Nachbarwohnung auftauchen, ehe ein schwerer Vorhang meinen Blick aussperrt.
S IE WOLLTE KEIN großes Begräbnis. Wen sollten wir auch einladen? Ich werde allein an ihrem Grab stehen, von unserem Ersparten einen Stein kaufen, und damit ist ihr Leben beendet. Auf dem Stein wird ein Name stehen, der nicht ihrer ist, und niemand wird ihre Geschichte kennen; ganz so, wie wir es wollten.
Noch ist in mir kein Raum für Trauer. Doch als die Männer das Tor zur Straße aufstoßen, folge ich ihnen nicht schnell genug; das Gitter schlägt wieder zu und das schwere Eisen trifft schmerzhaft meinen Arm.
Mir schwant, was es bedeuten wird, allein zu sein. Allein mit der Schuld.
2. M AI 1603
Trotz der Kerzenflamme war es in der Zelle stockdunkel. Anna wälzte sich schwitzend auf ihrer Bettstatt hin und her. Über dem Kloster türmten sich dicke Wolken auf. In der Ferne grollte Donner. Vereinzelt zuckten Lichtblitze und erhellten für Sekunden Annas Zelle. Mauersegler zischten um den Kirchturm, ihr Kreischen gellte in Annas Ohren: Kri, kri! Anna war, als ob sie selbst diese Schreie ausstieß: so grell, dass alles in ihr zerreißen wollte. Ihre Glieder zitterten vor Todesangst. Der Docht in dem winzigen Kerzenstumpen auf ihrem Nachttisch flackerte auf und ertrank im Wachs.
Außer ihrem Gemahl war die Dunkelheit ihr schlimmster Feind. Ihre Bewacher ließen ihr nie eine Ersatzkerze in der Zelle. Im Gegenteil, die Frau des Amtmannes, zu dessen Zuständigkeitsbereich das verlassene Kloster gehörte, weidete sich noch an der Furcht ihrer Gefangenen, wenn die Schatten aus den Ecken brachen und über sie herfielen, bis sie vor Grauen ohnmächtig wurde und ihre Schreie erstarben. Anna durfte niemals die Kontrolle über ihre Lage bekommen. Ihr Gemahl hatte angeordnet, dass sie unter keinen Umständen irgendeine Art von Macht über ihr Leben und Sterben haben sollte.
Insofern brauchte sie keine Angst vor dem zu haben, was ihr bevorstand. Schlimmer konnte es nicht werden.
Der Schweiß rann ihr über die Stirn und in die Augen. Ihr Herz raste. Morgen schrieb man den 3. Mai 1603. Man würde sie von hier wegbringen. Seit Wochen kannte sie den Tag und ebenso lang wütete in ihrem Innern eine grauenvolle Angst. Das stille Kloster war ihr nach sieben Jahren Gefangenschaft zwar verhasst, aber doch vertraut. Nun würde man sie auf die Veste Coburg verschleppen. Dort gäbe es keine Hoffnung auf Freiheit mehr. Niemand würde sie jemals aus der uneinnehmbaren Burg befreien können. Anna war 3 6 Jahre alt und ihr Leben keine Kupfermünze mehr wert.
Sie wünschte, es würde endlich regnen; sie sehnte sich nach dem beruhigenden Rauschen des Regens und dem Duft von Erde und Frühsommer, der durch den Fensterspalt in ihre Zelle wehen würde. Nur die Geräusche der Natur vermochten die Stimmen in ihrem Innern für eine Weile zu übertönen.
Sie sank in einen unruhigen Schlaf, aus dem der erste Donnerschlag sie herausriss. Keuchend stemmte sie sich auf die Ellenbogen und starrte auf die Tür. Im Lichtschein eines Blitzes, dem röhrender Donner folgte, öffnete sich die Tür.
Sie kommen in der Nacht, dachte Anna entsetzt. Sie wollen mich in der Nacht fortschleppen. Vielleicht bringen sie mich um. Und sie tun es in der Finsternis, damit niemand, niemand etwas merkt. Der Angstschweiß durchtränkte ihr Nachthemd, während der Wind am Fenster rüttelte. Anna fröstelte.
Schwaches Kerzenlicht erhellte den Türrahmen.
»Fürstin?«, fragte die Frau des Amtmannes mit brüchiger Stimme. »Fürstin, seid Ihr so weit?«
Als ob es irgendeinen Unterschied machte. Sie taten mit ihr, was sie wollten. Von ihren Bewachern war keine Hilfe zu erwarten. Anna rutschte zitternd an die Zellenwand. Sie spürte die feuchte Kühle des Steins durch ihr Nachthemd.
»Warum jetzt?«, keuchte sie. »Warum in der Nacht?«
Der folgende Blitzschlag beleuchtete für Sekunden die Gestalt in der Tür. In einer hilflosen Geste hob die alte Frau die Arme. »Es tut mir leid, Fürstin.«
Nun klangen entschlossene Schritte durch den Gang. Männerstiefel. Anna stiegen die Tränen in die Augen.
»Kleidet Euch an, Fürstin!«, befahl die Frau des Amtmannes. »Meine Gebete und Gedanken sind bei Euch.«
7. F EBRUAR 1605
Ich kauerte
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