Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
Minuten starrte ich auf die von Blut und Fruchtwasser durchtränkten Laken. Das Kind in meinen Armen begann zu schreien. Ich rief nach meinem Vater, wobei ich hastig die Blöße meiner Mutter bedeckte.
    Er stürmte ins Zimmer. »Was hast du gemacht?«, brüllte er mich an, sobald er den leblosen Körper auf dem Lager sah.
    »Agnes hat alles richtig gemacht«, flüsterte Elisabeth, meine Schwester. »Aber die Mutter konnte nicht mehr.«
    Elisabeth war zwei Jahre jünger als ich. Eine kleine, widerstandsfähige Person. Sie nahm mir den Säugling ab - ein Mädchen. Fragend sahen wir einander an. »Barbara«, schlug ich vor. »Nennen wir sie Barbara.«
    Mein Vater bekam von unserer Namenswahl nichts mit. Er raste und schrie und schickte meinen Bruder Johann zur Morizkirche, um den Pfarrer zu holen. Der Mann kam bald. Er roch nach Wein und ging nicht ganz gerade. Er beugte sich über die Leiche meiner Mutter. Dann nahm er mir die kleine Barbara aus der Hand. Sie war ganz weiß im Gesicht, wie Milch.
    »Verschwindet!«, herrschte mein Vater uns an. Elisabeth und ich rannten hinaus.
    Ich verkroch mich bei den Ziegen und schrieb in meine Chronik:
    Heute, am 17 . Juli 1610, ist meine Mutter Gertrud gestorben, als sie meine Schwester Barbara zur Welt brachte.
    Ich hielt inne und blätterte durch die vielen Seiten, die ich bereits mit meinen kleinen, kugelrunden Buchstaben bedeckt hatte. Nach Barbara hatte es weitere Tote in Coburg gegeben. Morde, müsste ich schreiben, doch ich ersparte mir das Wort, notierte nur die Namen. Und nun auch den meiner Mutter.
    Ihr Leben lag auf meinem Schoß, in Form eines Buches mit fleckigem, schmutzigem Einband.
    Mechthild, Alke, Gesche, Katharina, Veronika, Käthe, Hildegard, Barbara, Hedwig, Helene, Uta, Gertrud...
    Elisabeth rief mich leise von draußen, doch ich konnte nicht antworten. In der Küche hörte ich meinen Vater heulen und ab und zu schaltete sich die verwaschene Stimme des Pfarrers dazwischen. Plötzlich wurden sie lauter; Elisabeth kreischte vor Angst.
    Hastig schlüpfte ich aus meinem Versteck und eilte in die Küche. Ich sah, wie mein Vater das Neugeborene nahm und gegen die Wand schleuderte. Es klatschte laut, dann rutschte die kleine Barbara, mit dem Köpfchen nach unten, senkrecht die Wand hinunter und schlug reglos auf dem Boden auf. Mein Vater tobte wie ein wilder Bär; der Pfarrer war zu betrunken, um ihm in den Arm zu fallen. Meine Geschwister drückten sich mit großen Augen am Herd zusammen. Elisabeth suchte meinen Blick, voller Angst und Sehnsucht nach jemandem, der ihr sagen würde, dies sei nur ein grässlicher Traum, wie so viele sie des Nachts heimsuchten.
    Ich konnte Elisabeth nicht ansehen. Ein letztes Mal schaute ich auf die Leiche meiner Mutter, bevor ich meine und Barbaras Kladden aus dem Versteck holte und mein Zuhause für immer verließ.
    Mechthild, Alke, Gesche, Katharina, Veronika, Käthe, Hildegard, Barbara, Hedwig, Helene, Uta, Gertrud, Barbara...
    28. A UGUST 1611
    18 Jahre Gefangenschaft. Anna stand am Fenster ihrer Zelle und starrte in den düsteren Himmel. Schwalben umkreisten den Turm. Sie waren frei, und mochte ihnen auch nur ein Sommer vergönnt sein, so konnten sie fliegen, wohin es ihnen beliebte.
    Für Anna existierten nur die Zelle, der Turm, die Burg. Es gab den wöchentlichen Gang auf die Löwenbastei, doch seit der Sache mit Balthasar begleiteten sie zwei Wachen. Sie war nun schon eine ältliche Frau mit ersten Gebrechen. Die Augen vermochten nur noch ganz nahe Gegenstände scharf zu sehen, während weiter Entferntes in einem blassen Nebel verschwamm. Ihre Knie schmerzten, vor allem im Winter, wenn das Gemäuer der Veste Coburg monatelang eisige Feuchtigkeit ausstrahlte. Es fiel Anna schwer, aufrecht zu gehen, weil ihre Schultern sich ohne ersichtlichen Anlass krümmten.
    Balthasar war hingerichtet worden. Ihr früherer Gemahl hatte die Haftordnung in jenem Herbst vor fast fünf Jahren umgehend verschärft. Es wurde gemunkelt, Anna könnte noch froh sein, dass der Herzog ihr Leben nicht auch auslöschen ließ, wo er doch für seine Härte und sein entschiedenes Durchgreifen in solchen Angelegenheiten bekannt war. Immer noch loderten die Scheiterhaufen in Coburg. Ohne je darüber zu sprechen - mit wem auch -, litt Anna an schlimmen Albträumen, in denen die blauen Augen des jungen Wachmannes Balthasar über ihr aufleuchteten und ihr ewige Verdammnis androhten.
    »Guten Abend!«
    Anna fuhr herum. Sie hatte niemanden kommen hören, umso

Weitere Kostenlose Bücher