Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
mich in mein Versteck bei den Ziegen und schrieb:
Mechthild, Alke, Gesche, Katharina, Veronika, Käthe, Hildegard ...
Ich schrieb ständig. Vor allem Namen. Die Namen von Frauen. Seit der Sache mit Barbara. Und seit mein Bruder Josef im Brunnen ertrunken war. Meine Hand verkrampfte sich, als ich ansetzte, das große ›B‹ zu schreiben.
Mechthild, Alke, Gesche, Katharina, Veronika, Käthe, Hildegard, B...
Barbara hatte nicht weit von uns in einer Kate an der Itz gewohnt. Bisweilen besuchte ich sie dort und bewunderte ihre Schriften. Sie lehrte mich lesen und schreiben. Ich übte die Buchstaben heimlich, denn mein Vater verabscheute es, wenn er mich irgendwo mit einer Feder in der Hand sitzen und die Zeit unseres Herrgotts vergeuden sah. Zu meinen Pflichten gehörte es, mich um die Ziegen und um meine kleineren Geschwister zu kümmern. Ich war dafür zuständig, Wasser am Brunnen zu holen, das Haus sauber zu halten, Brotteig anzurühren und meiner Mutter bei allem zur Hand zu gehen, was sie wegen ihrer schwachen Gesundheit nicht bewältigte.
Es war nicht allzu lang her, dass ich Barbara gebeten hatte, nach meiner Mutter zu sehen. Es hieß, sie hätte die Gabe zu heilen. Wenn Barbara wusste, wie man Menschen gesund machte, konnte sie vielleicht auch etwas für meine Mutter tun. Barbara kam an einem Abend im späten Januar. Der Vollmond schien auf unser Haus, als sie durch den Eingang trat. Mein Vater war nicht da. Barbara untersuchte meine Mutter und sagte schließlich, sie sollte nicht mehr schwanger werden. Meine Mutter brach daraufhin in lautes Gelächter aus und rief mir zu: »Agnes, hast du gehört? Ich soll nicht mehr schwanger werden!« Und sie lachte und lachte. Ich wusste, dass sie längst wieder ein Kind erwartete.
Sieben Tage später wurde Barbara als Hexe verbrannt. Fast jeden Monat loderten die Scheiterhaufen in Coburg und jeder kannte mindestens zwei, drei Frauen persönlich, die als Hexen auf grauenvolle Weise starben.
Tagelang war ich außerstande, mich zu bewegen oder zu sprechen. Ich erstarrte einfach. Fiebernd lag ich auf meinem Lager. Barbaras dunkle Augen schienen mich von der niedrigen Decke voller Warmherzigkeit und Geduld anzusehen. Mir war, als saugte sich meine Erinnerung an ihrem Blick fest; als könnte ich ungeschehen machen, was ihr widerfahren war, wenn ich nur fest genug an sie dächte.
Dann fiel mein jüngster Bruder Josef in den Brunnen und ertrank. Meine Mutter nahm seinen Tod ohne die geringste Regung ihres Gemüts zur Kenntnis.
In der Morgendämmerung des nächsten Tages erhob ich mich leise von meinem Lager, das ich mit meiner Schwester Elisabeth teilte. Ich schüttelte die Lähmung ab, die seit Barbaras Tod in meinen Knochen saß. Ich wusste, wo Barbara ihre Schriften aufbewahrte, und ging, um sie zu holen. Der geheime Ort befand sich in der Nähe einer Schäferei im Südwesten der Stadt, mitten im Wald. Ich brauchte einen ganzen Tag für den Hin- und Rückweg, denn die Strecke war weit.
Voller Angst versteckte ich die Kladden nach meiner Rückkehr bei den Ziegen und ging dann ins Haus. Meine Eltern stritten.
»Der Herzog weiß, was er tut!«, brüllte mein Vater. Sein Mund brachte nur verwaschene Silben hervor; er hatte getrunken.
»Aber so viele, Heinrich, so viele!«, kam es von meiner Mutter. »So viele Frauen, die gute Gaben haben.«
»Pah!« Mein Vater spie aus. »Gute Gaben! Sie sind Verräterinnen, versündigen sich, wollen andere in den Abgrund der Hölle reißen! Wie konntest du das Weib ins Haus lassen! Ihretwegen ist unser Josef ertrunken!«
Von da an schrieb ich jeden Abend die Namen der Frauen auf, die auf Geheiß unseres Herzogs, Johann Casimir, als Hexen zum Tode verurteilt und verbrannt wurden.
Mechthild, Alke, Gesche, Katharina, Veronika, Käthe, Hildegard, Barbara ...
Ich las alle Schriftstücke, die ich aus Barbaras Versteck geholt hatte. Sie hatte die Pflanzen aus unserer Gegend beschrieben und gezeichnet, dargelegt, welche Heilkräfte in ihnen steckten und bei welchen Krankheiten man welche verwendete und wie. Es gab auch eine Kladde, in der Barbara etwas über die seelischen Zustände von Menschen schrieb, über die Gefahren von Hilflosigkeit und Einsamkeit, die zu Erstarrung, tiefer Traurigkeit, Verlorenheit und Rückzug führten. Ich erkannte meine Mutter. Und mich selbst.
3. O KTOBER 1606
Anna war es gestattet, einmal in der Woche in Begleitung einer Wache ihre Zelle zu verlassen. Üblicherweise begab sie sich auf die Löwenbastei, weil
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