Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
sie von hier oben einen herrlichen Blick über Coburg hatte. Obgleich ihre Augen durch die Gefangenschaft und die Dunkelheit in ihrer Zelle geschwächt waren, bereitete es ihr Befriedigung, von der Bastei aus die vielen neuen Gebäude in der Stadt zu betrachten.
Sie versuchte, ein Gespräch mit ihrem Bewacher anzufangen. Heute wurde sie von Balthasar begleitet, einem jungen Mann von unschuldiger Schönheit, dessen blaue Augen im klaren Oktoberlicht strahlten wie Edelsteine.
»Siehst du die vielen neuen Bauwerke, Balthasar?«
»Ja, Hoheit.«
»Gefallen sie dir?«
Der Mann wand sich. Anna genoss die kleine Qual, die sie ihm bereitete. Schließlich gingen all die Neubauten auf ihren früheren Ehemann, Herzog Johann Casimir, zurück, und sofern Balthasar zugab, die Gebäude zu mögen, würde er ihren Zorn wachrufen. Behauptete er aber, die Häuser gefielen ihm nicht, konnte das ebenfalls Ärger für ihn bedeuten.
»Ihr wisst doch, Hoheit, dass ich nicht mit Euch sprechen darf.«
»Aber du tust es ja gerade!« Anna beugte sich über die Brüstung und sog tief die frische Luft ein.
»Ja, Hoheit«, murmelte Balthasar unglücklich.
»Was hört man denn so über die neue Ehefrau?« Anna drehte sich um und blinzelte gegen das Sonnenlicht.
»Darüber weiß ich wirklich nichts.« Der Mann fühlte sich wieder auf sicherem Boden.
»Du denkst, das ist Weiberkram, nicht wahr?« Anna lachte leise. »Klatsch und Tratsch über Geschiedene, neu Verheiratete und so weiter. Sie haben immer noch kein Kind, richtig? Der Herzog hat sie vor sieben Jahren geheiratet, aber es ist ihm nicht geglückt, sie zu schwängern. Weißt du auch, warum, Balthasar, ja?«
Er wich furchtsam zurück. Anna war es egal. Sie hatte so gut wie nie die Gelegenheit, mit irgendjemandem mehr als zwei Worte zu wechseln, und jetzt bekam Balthasar ihre Trauer und ihre Wut ab, obwohl er gut zu ihr war und sie nicht umgehend in ihre Zelle zurückbrachte, wozu er jedes Recht gehabt hätte.
»Weil er nicht kann!« Höhnisch kichernd stupste sie ihren Bewacher mit dem Zeigefinger an. »Er kann nicht. Er sieht aus wie ein Mann, aber er ist keiner. Ich weiß, wovon ich rede, mein Lieber.«
Balthasar trat noch einen Schritt zurück.
»Johann Casimir wird kinderlos bleiben. Wo kein Sohn ist, dürfte es eines Tages Streit um das Erbe geben. Unser Herzogtum kann daran zerbrechen. Lass ihn nur neue, elegante Gebäude bauen, Lehranstalten gründen, lass ihn taktieren und lavieren! Wenn er keinen Erben vorweisen kann, wer wird das alles einmal verteidigen?« Mit ihren weißen Händen wies sie hinunter auf die Stadt.
Balthasar knetete seine Lippen.
»Ich sage dir, sie werden ihm sein Herzogtum zerschmettern!« Müde ließ Anna die Arme sinken. Sie wünschte Johann Casimir die Pest. »Wie sieht es mit dir aus, Balthasar?«
»Was meint Ihr, Hoheit?«
»Wem schenkst du deine Liebe?« Anna zog ihr Tuch fester um die Schultern. Die Sehnsucht nach einem Menschen, der gut zu ihr war, der sich ihr zuwandte und ihr Zuneigung schenkte, war so groß, dass sie sich jetzt sofort diesem jungen, blauäugigen Wächter an den Hals werfen könnte.
»Niemandem.« Sein Flüstern war kaum zu hören.
»Soll ich dir beibringen, was es zu wissen gibt?« Anna stieß sich von der Brüstung ab und kam auf Balthasar zu. »Möchtest du es lernen?«
Alle Farbe wich aus Balthasars Gesicht.
»Ich habe Order, Euch nach dem Spaziergang wieder zurück in Eure Zelle zu bringen.« Er rückte an seinem Degen.
»Eine schneidige Uniform trägst du. Die Uniform des Herzogs. Meines Gemahls. Meines früheren Gemahls.« Anna streckte die Arme aus und legte ihre Hände auf die Schultern ihres Bewachers. »Es gibt also keinen Grund, zurückhaltend zu sein.«
Ihr Schoß brannte. Balthasar war schön, er war jung, beeinflussbar und wahrscheinlich unsicher und hilflos, wenn sie ihn erst auf ihrem Lager hatte. Die Sehnsucht nach einem Mann, geboren in der Einsamkeit ihrer inzwischen 13-jährigen Gefangenschaft, flammte bei seinem Anblick, bei dem Glanz seiner blauen Augen so jäh auf, dass sie keine Zurückhaltung mehr kannte.
»Bring mich in meine Zelle zurück, Balthasar«, flüsterte sie. »Komm schon. Bring mich zurück.«
17. J ULI 1610
Am 17. Juli 161 o wurde ich 14 Jahre alt. Am selben Tag gebar meine Mutter wieder ein Kind. Es sollte ihr letztes sein. Ausgelaugt von 13 Geburten, verlosch sie einfach, als ich den Säugling endlich in den Händen hielt und die Nabelschnur durchtrennte. Ein paar
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