Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Selbstbeherrschung zerbrach. Schreiend und weinend warf sie sich gegen die Wände ihrer Zelle. Niemand achtete auf sie. Wahrscheinlich hörte sie auch niemand. Die Leute feierten das Schlachtfest. Man hatte ihnen Wein gegeben, um sie bei Laune zu halten. Der Herzog war bekannt dafür, dass er sich um Kleinigkeiten kümmerte, wenn es notwendig war, und er konnte ausgesprochen fürsorglich sein.
31. A UGUST 161 I
Ich würde eine neue Aufgabe bekommen, übermittelte die Köchin.
»Du bist von heute an die Kammerzofe von Anna von Sachsen.«
Ich erstarrte. Seit einem guten Jahr arbeitete ich auf der Veste Coburg in der Küche. Ich war nach meiner Flucht von zu Hause einige Wochen im Coburger Land umhergeirrt, hatte in einer Schäferei ausgeholfen und mir Essen und einen Schlafplatz im Heu verdient. Dann hatte Affra mich mitgenommen, weil ein Küchenmädchen gesucht wurde.
»Anna von Sachsen?«, wiederholte ich ungläubig.
»Ja. Die frühere Gemahlin unseres Herzogs Johann Casimir. Er hat sie lebenslänglich eingesperrt, das weißt du doch? Und du weißt auch, warum?« Sie sah mich durchdringend an.
Ich nickte langsam. »Wegen Ehebruchs.«
Ich hatte einmal den Coburger Taler gesehen. Eine Münze, geprägt aus Anlass der zweiten Eheschließung des Herzogs mit Margarethe von Braunschweig-Lüneburg. Mein Vater hatte vor zwei, drei Jahren einen solchen Taler beim Spielen gewonnen und mit nach Hause gebracht. Er zeigte auf der Vorderseite das neue Ehepaar, Johann Casimir und Margarethe, wie die beiden sich küssten. Die Umschrift lautete: ›Wie küssen sich die zwei so fein.‹ Auf der Rückseite war Anna zu sehen, seine geschiedene erste Frau, dargestellt als Nonne. Die Umschrift lautete: ›Wer küsst mich armes Nünnelein?‹
»Der Herzog ist nicht mehr ganz gesund«, erläuterte Affra, »und Anna natürlich auch nicht, nach fast 20 Jahren in der Zelle. Ihr Gemüt ist ein wenig, wie soll ich sagen, angeschlagen. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert, davon haben wir dem Herzog berichtet. Wenn er es zulässt, können wir alle nur zufrieden sein.«
»Aber was soll ich für sie tun?«, fragte ich ratlos. »Muss ich auch in der Zelle wohnen?«
»Unsinn. Du leistest ihr ein paar Stunden am Tag Gesellschaft. Du findest schon raus, was du für sie machen kannst.«
Noch am selben Nachmittag führte mich eine Wache in Annas Zelle.
Die Frau war groß und blass und saß reglos auf ihrer Bettstatt. An den Wänden der Zelle hingen nur ein Kreuz und daneben eine Zeichnung der Madonna mit dem Kind.
»Du bist Agnes?«, fragte die Fürstin. Ihre Stimme klang brüchig, als würde sie zu selten benutzt.
»Ja, Hoheit.« Ich senkte den Kopf. Es war kalt in der Zelle, obwohl draußen die Spätsommersonne schien.
»Ich habe gehört, bisher hast du in der Küche gearbeitet?«
»Jawohl, Hoheit.« Ich sah sie nicht an, aber ich spürte ihren kalten Blick auf meiner Brust.
»Du weißt, wer ich bin?«
»Selbstverständlich, Hoheit!«
»Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche.«
Ich hob den Blick. Ihre Augen waren dunkel wie Barbaras, aber es stand keine Wärme darin, nur finstere Verzweiflung. Um ihre Lider zogen sich hunderte kleine, scharf eingeschnittene Fältchen wie Spinnweben. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß, fest umeinander gekrampft, weiß, blutleer. Sie war sehr dünn. Anna von Sachsen erschien mir kraftlos und ohne jede Hoffnung. Als sei ihre Seele längst gegangen, schoss es mir durch den Kopf, und ich schauderte. Unsere Blicke trafen sich. Hielten sich aneinander fest. Ich versuchte ein Lächeln. Weil ich Mitgefühl mit ihr hatte. Weil ich plötzlich an meine Schwester Elisabeth denken musste und wie wir gemeinsam meiner Mutter geholfen hatten, unsere jüngste Schwester zu entbinden. Wie mein Vater die kleine Barbara an die Wand geschmettert hatte und wie der Säugling, mit dem Kopf zuerst, auf dem Küchenboden aufgeschlagen war. Die Demütigungen meines Lebens wirbelten durch meine Gedanken, als spielten sich alle Ereignisse in rasender Geschwindigkeit noch einmal vor mir ab, während ich in Annas dunkle Augen sah.
Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, dünn und farblos, und im Aufblühen erlosch es bereits.
18. N OVEMBER 1612
Hoffnung: immer noch ein ungewohntes, befremdliches und beinahe beängstigendes Gefühl. Annas Leben würde hier zwischen den klammen Mauern zu Ende gehen. Wenn sie an ihren Tod in Gefangenschaft dachte, zerstob alle Hoffnung unverzüglich in einer staubigen Ecke der
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