Bitteres Blut
Leere, die entsteht, wenn man hilflos mit ansehen muss, wie einem dank des niedrigeren Ranges das Wasser abgegraben wird. Nun ja, dachte er, im Land der Wölfe gilt nun mal das Gesetz der Wölfe.
Ihre Hände spielten mit einem goldenen Kugelschreiber. Vor ihr lag in einem grünen Hefter seine Ermittlungsakte, die sie gegenüber Kriminalrat Timmermans bereits als unsere für sich in Anspruch genommen und für ihre Zusammenfassung des Falles genutzt hatte. Kein Blick für ihn, der mit verschränkten Armen am anderen Ende des Tisches saß und gegen seine Müdigkeit und den noch unverdauten Frust kämpfte.
Neben ihm, aber auf der linken Seite, der in sich zusammen gesunkene, interesselos wirkende Steinbrecher, den Kopf kraftlos auf den Händen abgestützt. Hatte wohl wieder eine alkoholisierte Rosa-Luxemburg-Nacht zelebriert oder litt noch immer unter der ersten. Wie auch immer. Inmitten des Tisches als Grenze zwischen den gegnerischen Feldern stand das obligatorische Hartholztablett. Darauf die verchromt wirkende Einheitsthermoskanne des Hauses, fünf lindgrüne Steinguttassen, ein blaues Schälchen mit braunem Würfelzucker und ein noch nicht angebrochenes Fläschchen Kondensmilch Bärenmarke 4 %. Hildebrandts Beruhigungspille gegen die Fettzelleninvasion.
Die Tür flog auf. Die riesige Gestalt Dr. Livscinskis mit dem weißen Wuschelkopf stürzte in den Raum, zog sich, ohne zu grüßen, den Stuhl rechts von Lorinser heran und ließ sich seufzend darauf fallen.
»Frühestens morgen Nachmittag«, sagte er, nach der Thermoskanne greifend. »Vorher ist mit Ergebnissen in der Sache Böse nicht zu rechnen. – Ist das Tee oder Kaffee?«
»Kaffee«, murmelte Hildebrandt.
»Ungesund, sage ich Ihnen.« Er stellte die Kanne zurück. »Sie sollten auf Tee umsteigen. Auf grünen guter Qualität. Wirkt länger, ist gesünder und bekömmlicher.« Er zog ein ledernes Zigarrenetui aus der Innentasche seines Sakkos. »Gibt es hier keinen Aschenbecher?«
Timmermans verdrehte die Augen. »Alfons, darf ich dich daran erinnern, dass auch du für das hier geltende Rauchverbot gestimmt hast?«
Livscinski winkte ab. »Ein Mensch, der nicht raucht, ist unvollkommen. Das kannst du bei Jules Sandeau nachlesen, falls du zufällig auf ihn stoßen solltest. Und mit Auguste Barthélémy sage ich: ›Die Zigarre hat oftmals meine Verse gelingen lassen.‹«
Zu Lorinsers Überraschung kapitulierte Timmermans mit einem theatralischen Seufzen. Während Dr. Livscinski seine schlanke Cohiba beschnitt und entzündete, besorgte Hildebrandt ihm aus dem an der Längswand stehenden Sideboard einen kristallenen Aschenbecher, nicht ohne vorher eines der beiden Fenster zu öffnen.
»Können wir anfangen?«
Lorinser schnupperte den aromatischen Rauch. Livscinski lehnte sich zufrieden zurück.
»Es ist ganz einfach«, sagte er, sich die feuchten Lippen leckend. »Die vom rechtsmedizinischen Institut haben ihren Rhythmus und werden, wie gesagt, frühestens morgen mit Ergebnissen aufwarten. Mein erster Eindruck, den ich allerdings nur unter Vorbehalt weitergebe, ist folgender: Die Leiche weist erstens im Bereich oberhalb des linken Stirnjochs bis hin zur Schläfe eine tief ins Gehirn gehende Verletzung auf, die offensichtlich von einem mit einem scharfen Gegenstand geführten Schlagverursacht wurde. Zweitens liegen im Hals – und da speziell im Kehlkopfbereich – extreme Strangulationsmerkmale vor, die Ursache für den Bruch zweier Nackenwirbel sein können. Der Blutstau in diesem Bereich könnte – ich sage könnte ! – den Schluss zulassen, dass nicht die Strangulation, sondern die Schädelfraktur als Todesursache infrage kommt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schließt sich aus, dass der junge Mann in der Güllegrube ertrunken beziehungsweise unter Einwirkung der übergestülpten Plastiktüte erstickt ist. Meines Erachtens wurde ihm aus Gründen, über die ich nur spekulieren kann, die Tüte nach seinem Exitus übergestülpt. Möglicherweise sollte der Teppich nicht verschmutzt werden, oder so.«
»Mit anderen Worten Fremdeinwirkung?«
»Mein lieber Alfons, wer einem so was antut, ist ja kein Freund, oder?«
»Stand er unter Drogen- oder Alkoholeinfluss?«, fragte Lorinser.
»Sowohl als auch, junger Mann. Die Sorten«, sagte er grinsend, »kann ich Ihnen allerdings nicht nennen.«
»Können Sie etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«
Livscinskis Brauen bogen sich. Er blickte Lorinser belustigt an. »Könnte ich,
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