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Bitteres Blut

Bitteres Blut

Titel: Bitteres Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Voss
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dem rechten Zeigefinger auf die Brust. »Das bringe ich nicht. Ich bin gleich wieder da.«
    Hildebrandt stand mit hängenden Schultern am Fenster, als er ihr Büro betrat. Er sah die schnelle Bewegung, als sie ihr Gesicht mit einem Papiertaschentuch trocknete, ehe sie sich ihm zuwandte. An ihr war nichts mehr von der sonstigen geradezu herausfordernden Selbstsicherheit. Im Gegenteil, Lorinser hatte den Eindruck, eine Frau vor sich zu haben, die zutiefst verzweifelt und kaum noch in der Lage war, ihre Haltung zu bewahren. Stumm und um Fassung bemüht, die Lippen fest aufeinandergepresst, blickte sie ihn aus feucht glänzenden Augen fragend an.
    »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen«, sagte er mit dem Gefühl, die falschen Worte zur falschen Zeit am falschen Ort zu sagen. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«
    Hildebrandt hob, tief einatmend, kaum merklich die Brauen. Ihre Brust hob und senkte sich im Takt ihres Atems. »Danke«, brachte sie tonlos hervor, ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
    Er konnte nicht anders, er zog sie an sich und barg ihren Kopf an seiner Brust.
    Sie leistete zu seiner Überraschung keinen Widerstand.
    Obwohl sie nicht mehr darüber sprachen, hing Hildebrandts Trauer wie ein düsterer Schatten über ihnen. Sie sprachen gedämpfter, die üblichen Flachsereien wollten ihnen nicht über die Lippen, und selbst ihre Bewegungen schienen verhaltener zu sein. Dieser Tod war nicht der fremde eines Thorsten Böse, der als Delikt professionell analysiert und abgehandelt wurde. Er war der große Bruder, der sie zwang, ganz persönlich Stellung zu beziehen und sich ihrer Endlichkeit bewusst zu werden. Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es mit dir in hundert Jahren bestellt sein wird? Die Frage seines Vaters aus dem Dunkel vor dem Fenster. Sein bellendes, verzweifeltes Lachen. Dass du, dass ich, dass deine Mutter, deine Schwester, alle, die jetzt leben , nicht mehr da sein werden? Einfach nicht mehr da? Kannst du dir das vorstellen? Nein, konnte er immer noch nicht. Wenigstens nicht konkret. Solange man lebt, lebt man in seinem eigenen Bewusstsein in der Ewigkeit. Und die Ewigkeit, das weiß man doch, hat kein Ende. Trotz aller Erfahrungen mit dem Tod, der immer nur als der der anderen erfahren wird. Der des Freundes, mit dem du im Übermut überschäumender Fantasie einen Bankraub spielst und der mit einer Plastikpistole in der Hand fröhlich lachend ob des gelungenen Streiches von einem angstbebenden Polizisten aus dem blühenden Leben geschossen wird. Der qualvolle des ausgezehrten Vaters. Der dieser Mutter, die eine Hildebrandt geboren hat und die, wie du, in hundert Jahren möglicherweise nur dürftige Spuren hinterlassen haben wird. Auf Gedenksteinen, in den Köpfen der Hinterbliebenen oder – wie im Falle von Thorsten Böse – in dann längst verstaubten Akten.
    Noch waren sie frisch, die Spuren. Aber sie gaben leider viel zu wenig her, um den Fall erfolgreich abschließen zu können. Frau Pfarrerin, die tatsächlich Kindergärtnerin war, hatte bestätigt, von Melanie Simmerau vom Schützenfest mitgenommen und vor der evangelischen Kirche an der Doktorstraße um etwa drei Uhr abgesetzt worden zu sein. Ihrer Aussage nach sei »das Mädchen in keinem besonders guten Zustand« gewesen. Zu viel Alkohol und ein Kummer, der wohl mit der Familie zu tun habe, in welcher der Bruder alles und sie, die Tochter, »der letzte Dreck« sei. Ausgesprochen habe sie sich nicht, aber durchblicken lassen, endlich so weit zu sein, sich von der Familie lösen und sich ihr eigenes Leben einrichten zu wollen. Ja, sie könne bestätigen, dass Melanie im Festzelt mit Thorsten Böse getanzt habe, allerdings sei ihr nicht bekannt, ob es zwischen den beiden eine Beziehung gab. Gezeichnet Ursula Amend. Handschriftlicher Kommentar Steinbrechers: »Zu klären ist, ob die M. S. die Leuenfortschänke zum Zweck des Zusammentreffens mit dem Böse aufgesucht hat.«
    Die Spur zu Kröger war versandet, stellte Lorinser fest, als er das Protokoll seines Kollegen überflog. Die Maschine, eine Twin Otter, war um acht Uhr zweiunddreißig in Sylt gestartet und um neun Uhr siebenundzwanzig auf dem Flugplatz Damme niedergegangen. Dass Hinrich Böse ein Jahr später, als von Kröger behauptet, ums Leben gekommen war, spielte vor dem Hintergrund des aktuellen Falles jedenfalls keine Rolle.
    »Wie eindeutig war denn die erste Aussage des Justiziars der K-Tec, dieses Angstmeyer?«
    Steinbrecher hob den Kopf. »Wie gesagt,

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