Bitteres Blut
wirklich keine Merkmale eines Lustmörders, das ist der ganz normale Johannestrieb eines in die Jahre gekommenen Mannes«, sagte Lorinser verzweifelt in das Mikrofon des Telefons, als seine Mutter zum dritten Mal von ihrem Ausflug an den Baldeney See und dem pensionierten Lehrer aus Hattingen erzählte, der eigentlich sehr nett, aber mit seinen dauernden Anrufen auch lästig wie eine Klette sei und ihr »brünstig wie ein junger Bock« seit Tagen nachstelle, aber »diese verdächtig starken und auch noch zusammengewachsenen Augenbrauen« habe, »du weißt schon, wie der Blaubart aus dem französischen Film, der gestern Abend im Fernsehen lief, und der dann glücklicherweise auf dem Schafott landete.«
»Ich bin in echter Sorge«, fügte sie mit ihrer doch schon ein wenig altersbrüchig klingenden Stimme hinzu, »auch wegen Katta, Kris, und ich frage dich, ob es nicht doch besser ist, wegen diesem Menschen vorsichtshalber die Polizei einzuschalten? – Wie geht es dir denn da oben auf dem flachen Land, mein Kind?«
»Alles bestens, Mutti«, wiederholte Lorinser ebenfalls zum dritten Mal. »Und Katta geht es auch gut. Sie ist ja nicht mehr bei mir, aber wir haben telefoniert, und das mit der Polizei, das ist wirklich Unsinn. Der Mann, den du kennengelernt hast, will dir doch nur klarmachen, dass er dich gern hat.«
»Aber die Augenbrauen, Kris, die zusammengewachsenen Brauen !«
Lorinser blickte flehend zur Decke. Nur zu gerne hätte er sich eine Zigarette angezündet, aber die hatte er dummerweise auf Steinbrechers Schreibtisch liegen lassen. »Ich bitte dich!«, sagte er ungeduldig. »Ein pensionierter Lehrer! Triff dich mit ihm auf einen Kaffee, rede mit ihm, lern ihn kennen, oder, wenn du nicht anders kannst, mach ihm klar, dass du nichts mit ihm zu tun haben willst.«
»Treffen tu ich ihn ja. Heute Nachmittag. Um drei.«
»Dann ist ja alles gut.«
»Das werden wir sehen. Wenn ich es überlebe, rufe ich dich an. Aber wenn ich mich nicht melde …«
Kopfschüttelnd legte Lorinser auf und starrte eine Weile auf den gerahmten Baselitz-Druck, der am Fuß der Wand lehnte und darauf wartete, aufgehängt zu werden. Er sah die Farben, aber nicht die Form. Es sah das schmale, trotz ihres Alters noch frische Gesicht seiner Mutter, ihre blaugrauen Augen, die hohe, glatte Stirn und den freundlichen Mund, dem meistens liebevolle, hin und wieder energische, aber niemals ängstliche Worte entschlüpft waren. Was sie jetzt abgeliefert hatte, klang allerdings verdächtig nach einem Lehrstück preparanoider Herkunft. War sie auf dem Weg, den Blick für die Realität zu verlieren? Starrte auch sie inzwischen mit leerem Blick aus dem Fenster? Herr im Himmel, zusammengewachsene Augenbrauen ! Aus welchem Giftbrunnen hat sie das denn? Zusammengewachsene Brauen wuchsen ihm auch, wenngleich sie bei ihm an der Nasenwurzel aus dünnem Flaum bestanden, kaum zu erkennen und bestimmt nicht als ein von der Natur mitgegebenes Zeichen mörderischer Veranlagung zu bewerten waren. Wieso meldete Katta sich nicht bei ihr ?
Ihr Versprechen, ihn anzurufen, hatte sie zwei Tage schleifen lassen. Erst am Samstag, und das kurz vor Mitternacht, hatte sie ihm die in seinen Augen skurrile Geschichte ihrer Love Story mit der für Lorinser noch immer namenlosen BMW-Frau mit verlegen-trotzigem Sperrfeuer hingemotzt und seinen Einwand, brutale körperliche Gewalt gehöre ja wohl nicht dazu, mit dem Hinweis auf in der Natur der Sache liegende »Findungsstörungen« entschuldigt. Aber jetzt, jetzt ist alles in gutem Fahrwasser, du darfst dir wirklich keine Sorgen machen, wirklich nicht! Dummerweise war ihre Telefonnummer nicht auf dem Display erschienen und noch dümmer, dass er sie nicht danach gefragt hatte. Sie aufzufordern, sich häufiger mit ihrer Mutter in Verbindung zu setzen, musste daher bis zu ihrem nächsten Anruf warten. Wenn sie nicht plötzlich wieder mit Platzwunden vor deiner Tür sitzt, dachte er und schlug den vor ihm liegenden, mit einer Klammer gehefteten Bericht der Rechtsmedizin erneut auf.
Hildebrandt hatte zwar nur flüchtig, aber richtig gelesen: Der Todeszeitpunkt war von den Experten aufgrund der Zersetzung des Mageninhaltes und der Einwirkung chemischer Güllesubstanzen auf den Körper unter Berücksichtigung einer zeitlichen Variable von dreißig Minuten für die Zeit um Mitternacht bestimmt worden. Die mit der Tankquittung begründete Annahme, Böse habe noch um null Uhr achtundfünfzig gelebt, war damit zwar nicht
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