Bitteres Blut
widerlegt, aber doch deutlich infrage gestellt.
Lorinser wählte die auf dem Bericht gedruckte Nummer des rechtsmedizinischen Instituts. Es dauerte zwei Schaltungen, bis sich der Berichtsverantwortliche, Dr. Kerl, mit grollender, aber freundlicher Stimme meldete.
Ja, er sei über den Fall im Bilde, erstens könne er ihn mit einem Klick aus dem Computer abrufen, und zweitens finde man schließlich nicht jeden Tag einen Pferdekopf im Gehirn eines Toten. Wo dem lieben Kollegen denn der Schuh drücke?
»Ihre Festlegung, Herr Doktor. Sie grenzen den Todeszeitpunkt zwischen dreiundzwanzig Uhr dreißig und halb eins ein, Tendenz Richtung null Uhr. Uns liegt ein widersprechendes Indiz vor, eine Tankquittung, nach der das Opfer noch um null Uhr achtundfünfzig gelebt haben muss. Kann es sein …«
»Ja, kann«, schnitt Dr. Kerl seine Frage ab, »und zwar deshalb, weil das, was Sie Festlegung nennen, keine ist. Ich würde mal sagen, wenn Ihr Indiz kein Indiz, sondern ein Beweis ist, dann sollten die achtzehn oder vielleicht zwanzig Minuten Differenz nach oben keinen Expertenstreit auslösen. Erweist er sich als richtig, geht die Runde an Sie, wenn nicht, gilt das geschriebene Wort. Können wir uns darauf einigen?«
Konnte Lorinser. Aber mit dem Gefühl, den Ball mal wieder ins Aus gedroschen zu haben. Die unbefriedigende Antwort steigerte sein Verlangen nach einer Zigarette und stellte ihn vor die Gewissensfrage, nachzugeben oder standzuhalten. Da sein Fleisch schwach war, ging er in Steinbrechers Büro und lieh sich von dem telefonierenden und trotzdem feixenden Kollegeneine seiner eigenen Zigaretten. Und weil er sich wegen seines schwachen Fleisches doch ein bisschen schämte, verzögerte er das Anzünden um ganze zehn missmutig und sehnsüchtig durchlebte Minuten. Die waren denn auch Strafe genug für sein Einknicken, fand er.
Wer, zum Teufel, hat dich umgebracht?
Er schob den rechtsmedizinischen Bericht unter den Locher, als sein Handy ertönte. »Anonymer Anrufer« stand auf dem Display. Er drückte die grüne Taste und meldete sich.
Es war Halvesleben, der ihm mit seiner so herrlich klar artikulierenden Stimme gut gelaunt einen wunderschönen Guten Morgen wünschte. »Ob Sie’s glauben oder nicht, Lorinser, hin und wieder erreicht selbst mein Blättchen die trocken gefallenen Gehirne der Leute. Ich habe hier einen mit zittriger Hand geschriebenen Leserbrief, dessen Verfasser möglicherweise letzte Woche Montag Böses Porsche in der Nähe Brockums auf einem Feldweg im Oppenweher Moor gesichtet hat. Aber die Beschreibung ist meiner Meinung nach eindeutig, zumal er ein Kennzeichen aufgeschrieben hat. Es lautet DH-TB 765 mit der Einschränkung, dass es auch eine andere Kombination aus den gleichen Ziffern sein kann. Sie können das sicherlich abgleichen?«
»Hat er auch eine Zeit angegeben?«
»Nein.«
»Aber hoffentlich Namen und Adresse?«
»Ein Albert Rolf Messmann aus Dauhorst.«
»Wo ist denn das?«
»Wenn Sie von Lemförde nach Brockum und dann in Richtung Wagenfeld fahren, ist es die erste Abzweigung rechts, die in den Thielmannshorst und auf das Oppenweher Moor zu führt. Können Sie eigentlich nicht verfehlen.«
Lorinser klickte sich mit der Maus in die Spurenakte. Zwei weitere Klicks und er hatte das Kennzeichen. DH-TB 675, las er und spürte ein Kribbeln in der Magengegend. So schlecht fing die Woche also doch nicht an. »Ein kleiner Zahlendreher«, sagte erzufrieden. »Nicht 765, sondern 675. – Hat der Zeuge auch seine Telefonnummer angegeben?«
Hatte er nicht, aber Halvesleben schien das Telefonbuch neben sich liegen zu haben. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er sie gefunden hatte und durchgab. »Was mache ich mit dem Brief? Soll ich ihn rüberfaxen?«
»Ach was«, sagte Lorinser und schrieb das Wort »Porsche« in Großbuchstaben auf seinen Notizblock. »Warum die Technik bemühen. Ich bin sowieso gleich unterwegs und komme bei Ihnen vorbei. Falls Sie nichts dagegen haben.«
Hatte der Journalist nicht.
Die reine Freude strahlte Halvesleben nicht gerade aus, als er Lorinser in seinem engen, vom Jaulen eines Computers und Kaffeeduft erfüllten Büro voller Ikea-Spanplatte den Leserbrief aushändigte. Das mochte an der ungewohnten Kleidung des Journalisten liegen, der sich – möglicherweise wegen des auf der Schreibtischkante sitzenden grauhaarigen Herrn mit dem verwitterten Gesicht des Typs »väterlicher Freund« – trotz der sommerlichen Temperaturen in Erwartung eines
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