Bitteres Blut
fasziniert zugleich an. Er hatte das sichere Gefühl, Opfer eines Scherzes zu sein. Weil er glaubt, ein Zeichen setzen zu müssen! Das hörte sich nach einer Romanhandlung an. Einer geschmacklosen. Er wandte den Kopf, betrachtete Halveslebens schwitzendes Gesicht, in dem er keine Bestätigung seiner Zweifelfand, suchte wieder den Blick des Ex-Polizisten, um darin die verräterischen Anzeichen einer Verlade zu entdecken. Was er entdeckte, waren hellwache Augen, die nicht zu erkennen gaben, was in dem Kopf, der sie steuerte, vor sich ging.
»Haben Sie das auch meinem Kollegen und meinem Chef gesagt?«
»Habe ich.«
»Und?«
»Ich war selbst einmal Polizist«, sagte Fleestedt. »Ich weiß also, wie oft einem Spinner ihre Albträume in die Ohren blasen und dass man irgendwann das wirre Zeug einfach nicht mehr hören will und vielleicht auch nicht mehr hören kann. Ich jedoch habe es mir nie erlaubt, diese Leute abzuwimmeln. Und wissen Sie, warum?«
Natürlich wusste er, warum. »Wieso überlassen Sie die Sache nicht der Polizei?«
»Weil kein Delikt vorliegt, Lorinser. Wo kein Delikt, da keine Anzeige, und wo keine Anzeige, da auch kein Tätigwerden. Nachhilfe in Sachen Bürokratie muss ich Ihnen hoffentlich nicht geben, oder?«
Nein, musst du nicht, dachte Lorinser und wunderte sich, dass die ansonsten schnell aufspringende Schublade, Abteilung hellwaches Misstrauen, jetzt geschlossen blieb. »Ist er krank?« Er hatte das Bild eines orientierungslos herumirrenden Mannes vor Augen. »Ich meine, ist er hilflos, verwirrt?«
»Nein, nein, das ist er nicht!«, wehrte Fleestedt kopfschüttelnd ab. »Wenigstens nicht im klinischen Sinne«, fügte er hinzu und tippte sich an die Stirn. »Möglich, dass da oben was durchgebrannt ist. Ich wage das nicht zu beurteilen. Was ich weiß, ist, dass er sich offenbar in einer ausweglosen Situation sieht und …« Er brach ab, tastete nach der Innentasche seines neben ihm liegenden Jacketts und zog zwei gefaltete Papierbogen hervor. »Lesen Sie selbst«, bat er. »Der Brief ist an den Vorstand seines Finanzamts gerichtet.«
Lorinser runzelte die Stirn. Finanzamt? Er hatte eine Menge Fragen auf den Lippen, ersparte sie sich jedoch. Er nahm den Brief und entfaltete ihn.
»Sehr geehrte Damen und Herren«, las er, »mein Sohn teilte mir soeben mit, dass Sie mit Ihrem Schreiben vom 13.4.d.J. die Zwangsvollstreckung der von Ihnen willkürlich geschätzten und festgesetzten Steuerschuld von 14.500 Euro nebst 1.744,71 Euro Zwangsgeldern und Gebühren angekündigt haben, die nur noch abzuwenden sei, wenn der Gesamtbetrag innerhalb einer Woche gezahlt werde. Ich habe Ihnen mehrmals begründet erklärt, dass Ihre Forderung 1. unberechtigt ist, weil ich in jenem Jahr kein steuerpflichtiges Einkommen erzielte und 2. über keine Mittel verfüge, aus denen ich auch nur einen Bruchteil der Summe begleichen könnte. Ich habe Ihnen darüber hinaus mehrmals mitgeteilt, dass ich krank und unfähig bin, meinen oder überhaupt einen Beruf auszuüben. Ich verzichte bewusst auf staatliche Unterstützung und überlebe durch Verkäufe meines noch vorhandenen restlichen Besitzes. Die Begleichung Ihrer lediglich aus der Nichtabgabe meiner Steuererklärung resultierenden Forderung ist mir jedoch einfach unmöglich.
Da ich angesichts Ihrer Ignoranz keine Hoffnung mehr auf eine Lösung des Falles habe und meinem Sohn weitere Besuche Ihrer Eintreiber ersparen will, habe ich mich entschlossen, die Summe auf die einzige Art und Weise zu erwirtschaften, die mir im Augenblick realistisch erscheint: Ich werde mich, nachdem ich die Medien und relevante amtliche und politische Gremien und Persönlichkeiten ausführlich über Ihre unbegründeten Maßnahmen informiert habe, aus Protest gegen Ihre Willkür öffentlich verbrennen. Die entstehenden Bilder und Nachrichten versuche ich gegen Honorar an die Medien zu veräußern. Sollte das gelingen, gebe ich meinem Nachlassverwalter auf, Ihnen die geforderte, aber unberechtigte Steuerschuld aus diesem Zufluss zu überweisen.
Mit freundlichen Grüßen,
Bengt Vauen.«
Lorinser ließ den Brief sinken und blickte auf. In Fleestedts Gesicht zuckte kein Muskel, in den Augen blitzte auch jetzt kein versteckter Schalk. Halvesleben, der den Eindruck machte, als sei ihm der Inhalt des Schreibens bekannt, rieb die verschwitzten Hände gegeneinander, als wollte er sie in Unschuld waschen. Kein heimlicher Blickwechsel zwischen den beiden.
»Das ist ein Witz, oder?«
»Vauen
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