Bitteres Geheimnis
nicht so viel besser, wie sie gehofft hatte. Sie mußte eben Geduld haben, dachte sie. Sie hatte ja noch fast fünf Monate, um sich an die neue Situation zu gewöhnen und Möglichkeiten zu finden, mit ihr fertig zu werden. Gott sei Dank, daß wenigstens Germaine sich wie immer verhielt.
Sie wählte die ersten drei Zahlen von Mikes Nummer und legte wieder auf. Noch nicht. Nicht gleich an ihrem ersten Abend zu Hause. Erst wollte sie sich wieder eingewöhnen, dann würde sie mit ihm reden und alles in Ordnung bringen.
Mary lehnte sich an die kühle Küchenwand und schloß die Augen. Vor zwei Monaten hatte sie genau an dieser selben Stelle eine Entscheidung getroffen, und es war die falsche gewesen. Sie drehte den Kopf und sah zum Telefon. Er hat mich vergessen, dachte sie.
Mike suchte im Dunklen nach dem Lichtschalter und drückte ihn herunter. Als das Licht aufflammte, schloß er geblendet die Augen und tappte blind zum Waschbecken. Das kalte Wasser tat gut. Viel Seife. Er seifte sich bis zu den Ellbogen ein wie ein Chirurg vor der Operation, und dann spülte und spülte er und vermied es dabei die ganze Zeit, den Burschen im Spiegel anzusehen.
Als er fertig war und sich abtrocknete, dachte er mißmutig, Herrgott noch mal, was ist eigentlich in mich gefahren? Er hängte das Handtuch ordentlich wieder über den Halter und sah endlich in den Spiegel, um aufmerksam sein Gesicht zu mustern.
Weicher Flaum bedeckte seine Wangen, aber sein Kinn war immer noch so zart und glatt wie das eines Säuglings. Keine Spur von einem Bart. Er erinnerte sich an den Vortrag, den Bruder Nikodemus ihnen in der siebenten Klasse über die Sünde Onans gehalten hatte.
»Ein sicheres Zeichen dafür, daß jemand dieser Sünde frönt, ist, daß er sehr spät einen Bart bekommt, manchmal sogar überhaupt nicht. Das ist eine Tatsache, Jungen, da gibt's nichts zu grinsen. Die Selbstberührung führt zu einer unnatürlichen Freisetzung bestimmter chemischer Stoffe, die eigentlich der Anregung des Bartwuchses dienen sollten. Da könnt ihr jeden Arzt fragen. Die Selbstberührung ist eine Sünde und eine Beleidigung Gottes, die sich nicht verbergen läßt. Jeder kann euch deutlich vom Gesicht ablesen, ob ihr so etwas tut.«
»Ja, klar ...« murmelte Mike, während er sich mit der Hand über das Kinn strich. Die Jungen der St. Sebastian Schule hatten es damals nicht geglaubt und glaubten es auch jetzt nicht. Trotzdem, er würde sich viel mehr als Mann fühlen, wenn er endlich einen Bart bekäme.
Mike knipste das Licht aus und ging in sein Zimmer zurück. Zwei Dinge quälten ihn, als er sich wieder hinlegte, und nahmen ihm den Schlaf. Das eine war, daß er sich nachgegeben hatte und nun morgen nicht zur Kommunion gehen konnte. Das andere war Mary.
Die Arme unter dem Kopf verschränkt, versuchte er, wie er das jeden Abend tat, sich Mary vorzustellen. Und während er ihr Bild an die schwarze Zimmerdecke projizierte, bemühte er sich, wie er das ebenfalls jeden Abend tat, den Wirrwarr seiner Gefühle auseinanderzuzupfen, Ordnung zu schaffen, zu verstehen, was in ihm vorging. Am liebsten hätte er eine säuberliche Liste aufgestellt.
Er war zornig. Das lag auf der Hand. Aber auf wen? Auf Mary vielleicht. Auf sich selbst ganz sicher. Und am meisten auf den Kerl, der ihr das Kind gemacht hatte. Und er war unglücklich. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Er hielt es kaum aus vor Sehnsucht. Andere Mädchen interessierten ihn nicht. Er gehörte zu Mary. Neugier. Warum hatte sie es getan und mit wem? Sexuelle Begierde. Er begehrte sie noch genauso heftig wie zuvor, verlangte nach der verbotenen Frucht, die nun in unerreichbare Ferne gerückt zu sein schien. Und etwas wie Scheu war da, vor Mary, der Schwangeren.
Er war geplagt von dem Verlangen, ihr zu verzeihen, aber zu stolz, den ersten Schritt zu tun.
Mit einem Ruck wälzte er sich herum und schlug mit der Faust in sein Kopfkissen. Er war tief getroffen gewesen, als er heute von seinem Vater gehört hatte, daß sie nach Hause zurückgekehrt war, ohne sich bei ihm zu melden. Jetzt war alles noch schlimmer geworden. Solange Mary fort gewesen war, hatte Mike seinen Kummer und seine tiefe Niedergeschlagenheit beherrschen können; jetzt, wo sie wieder da war, kam alles von neuem hoch. Erst der Impuls, sie anzurufen, sie zu küssen, mit ihr zu weinen. Dann Wut. Sie hatte ihn belogen. Danach der Wunsch, sich zu ihr zu setzen und ruhig zu fragen: Warum, Mary? Warum ein anderer und nicht ich?
Hundertmal war er
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