Bitteres Geheimnis
ihm helfen. Bitte ihn um seinen Rat, Mary. Er wird die Antwort geben. «
Sie faltete die Hände und preßte die Finger so fest aneinander, daß ihr die Knöchel weh taten, als könnte sie durch den körperlichen Schmerz ihre Inbrunst beweisen. Neben ihr kniete steif Pater Crispin, den Kopf mit dem kahlen Scheitel über die gefalteten Hände geneigt. Sie hörte seinen Atem und spürte seine Nähe.
Die Kirche war leer. Die warme Luft roch nach Weihrauch und Kerzenqualm. Der Altar war unter der Blumenfülle kaum zu sehen. Farbiges Licht strömte durch die Buntglasfenster und tauchte das Gestühl und den Marmorfußboden in gleißendes Licht. Marys Knie auf dem Kunststoffpolster begannen zu schmerzen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und Gott mit stummen Schreien zu zwingen, sie zu hören. Sie stellte sich einen Rosenkranz in ihren Händen vor, meinte zu spüren, daß die Perlen durch. ihre Finger liefen. Ein Vaterunser. Drei Gegrüßet seist du, Maria.
Es stimmte nicht. Sie senkte den Kopf in tiefer Konzentration. Ehre dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen.
Sie betete ein Gegrüßet seist du., Maria nach dem anderen. Die Worte klangen sinn- und bedeutungslos in ihrem Hirn., eine endlose Aneinanderreihung sich wiederholender Vokale und Konsonanten. Sie verlor das geistige Bild des Rosenkranzes. Ein Gegrüßet seist du, Maria verschmolz mit dem nächsten.
Verzweifelt über ihre Unfähigkeit, den rechten Weg zu finden, um mit Gott in Zwiesprache treten zu können, öffnete Mary die Augen und hob den Kopf. Suchend blickte sie zum Altar. Die Augen fest auf den gekreuzigten Jesus gerichtet, begann sie von neuem zu beten.
Aber es ging nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Alles war falsch, nichts stimmte. Sie warf einen Blick auf Pater Crispin, der tief im Gebet versunken war. Von neuem sah sie zum gekreuzigten Christus auf und versuchte es noch einmal.
Herr erbarme dich meiner! Christus, erbarme dich meiner! Ihr Blick schweifte zur Statue der Jungfrau Maria, die links von der Kanzel stand.
Gott allmächtiger, einziger Gott, erbarme dich meiner!
Sie schluckte krampfhaft.
Jesus, erbarme dich meiner!
Heilige Maria, Mutter Gottes, erbarme dich meiner!
lhr Blick glitt von der Heiligen Jungfrau ab und blieb an dem Bild vor der ersten Station des Kreuzwegs hängen. Eine seltsame, ängstliche Unruhe bemächtigte sich ihrer. Ohne etwas wahrzunehmen, sah sie mit starrem Auge ins Halbdunkel und rang mit den Worten in ihrem Kopf.
O Gott, schrie sie in Gedanken. Sag mir doch, was mit mir geschieht. Sag mir, warum. Sag mir, wieso. Nur du allein kannst mir helfen. Dr. Wade weiß keine Antwort. Pater Crispin weiß keine Antwort. Nur du, Gott, du allein weißt, warum dies geschehen ist. Hilf mir, Gott ...
Mary schloß zitternd die Augen und bemühte sich, ihr Herz zu öffnen. Sie holte tief Atem, hielt lange die Luft an und stieß sie dann langsam aus.
Sie öffnete die Augen. Und plötzlich wurde sie gewahr, worauf ihr Blick gerichtet war.
Auf das Bild des heiligen Sebastian.
Sie vergaß ihre verzweifelten Gebete. Neugierig musterte sie das Gemälde: die Pfeile, die den kraftvollen Körper durchbohrten; die blutenden Wunden; die straffen Sehnen der nackten Schenkel; den geschundenen Leib. Am Ende blieb ihr Blick in Faszination an dem gequälten schönen Gesicht hängen, das trotz aller Qual einen Ausdruck der Verzückung trug.
Sie erinnerte sich.
Und im selben Moment kam ein wohltuender, tröstlicher Friede über sie.
13
Jonas Wade hatte Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war fast Mittag; jeden Moment würde Mary Ann McFarland kommen.
»Okay, Timmy, das wär's!« Er gab dem kleinen Jungen einen leichten Klaps auf die Schulter. »Du warst wirklich tapfer. Jetzt sind alle Fäden raus.«
Der Kleine strahlte, warf einen Blick auf die rote Narbe an seinem Knie und sagte: »Danke.«
Während die Sprechstundenhilfe dem Jungen vom Untersuchungstisch half, ging Jonas in sein Sprechzimmer und schloß die Tür hinter sich. Unruhig und beklommen setzte er sich an seinen Schreibtisch und starrte auf das Krankenblatt, das vor ihm lag. Er hatte beschlossen, Mary heute alles zu sagen.
Die Sprechanlage summte.
Jonas Wade saß über Timmys Krankenblatt gebeugt und schrieb, als Mary leise eintrat, die Tür hinter sich schloß und in einem der Stühle vor dem Schreibtisch Platz nahm. Er blickte kurz auf, um sie zu begrüßen. Die Hände im Schoß gefaltet, saß sie da und wartete geduldig.
Er schrieb
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