Bitterfotze
Angst. In mir keimt der Verdacht auf, dass mein Verdrängen ein Chaos verursacht hat. Der endgültige Konkurs. Der totale Untergang.
Ich.
Sigge wird zu Nina Simones I Shall Be Released herausgeschnitten.
Im Operationssaal sind zehn fantastische Frauen damit beschäftigt, mich zuzunähen. Ich liege auf dem OP – Tisch und weine und liebe sie alle zehn. Abgeschuftet, unterbezahlt und doch immer freundlich und voller Geduld, Trost und Warmherzigkeit. Ich bin so dankbar!
Johan darf die Hebamme ins Nebenzimmer begleiten, sie waschen Sigge und legen ihn mir dann an die Brust. Wir haben das wunderbarste kleine Mausekind bekommen, das man sich denken kann! Er will die Augen nicht öffnen, er liegt still da, ich streiche ihm über die Wange, die Hände, die Füße, den Rücken. Ich liebe ihn tief und innig.
Im Krankenhaus ist es wunderbar, ich will überhaupt nicht nach Hause fahren. Wir haben ein Zimmer für uns, leben in einem geborgenen Kokon, bekommen jegliche Unterstützung, Full Service. Ich schlafe fast nicht in diesen Nächten, ich bin vollauf damit beschäftigt, dazuliegen und Sigge anzuschauen, aber es gibt zu festen Zeiten Essen, zum Frühstück frische Brötchen. Ich brauche an nichts Praktisches zu denken, wir können all unsere Energie, all unsere Gefühle ungehindert Sigge und einander widmen. Das Einzige, was nicht richtig klappt, ist das Stillen. Meine Brüste sind prall gefüllt mit Milch, die herausläuft, aber Sigge kann nicht richtig saugen. Schließlich hilft uns eine Hebamme mit einem Gummisauger, den man auf die Brust setzt, und dann schafft er es ein wenig.
Nach vier Tagen müssen wir den Kokon verlassen und uns nach Hause begeben. Wir sind völlig durcheinander, und ich weine bloß noch. Vor Glück, denke ich, oder aus Erschöpfung?
Nach zwei Tagen zu Hause besucht uns ein Bühnenbildner, mit dem Johan bei seiner bevorstehenden Inszenierung zusammenarbeiten wird. Es ist sein erster Auftrag, seit er seinen Abschluss in der Regieklasse gemacht hat, und es ist eine Arbeit, auf die er mit großer Erwartung und Nervosität blickt. Eine Arbeit, die ihm sehr viel bedeutet. Der Bühnenbildner und Johan schließen sich für ihre Besprechung im Arbeitszimmer ein. Ich sitze im Wohnzimmer und versuche, Sigge zu stillen. Es klappt nicht gut. Meine Brüste sind hart und gespannt, kleine graue Milchstrahlen schießen heraus und durchnässen meinen Pulli. Die Brüste schmerzen und spannen und wollen geleert werden, aber jedes Mal, wenn ich Sigge anlege, brüllt er wie am Spieß. Ich versuche mich zu wappnen, versuche zu verhindern, dass sein Schreien tiefe Wunden in mein Inneres schneidet. Ich versuche meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Ich sage sanft: »Soo, mein geliebtes Kind … da … versuch es … sooo …« Ich streiche Sigge über den Kopf, den Rücken, streichle seine Füße. Lasse seine wütende Hand sich krampfartig um meinen Finger schließen. Sein kleiner Körper ist gespannt wie ein Bogen, er zittert vor Wut. Sein Schreien lässt mich schwitzen. Ströme von Schweiß laufen mir über die Stirn, in die Augen, unter den Armen, über den Bauch, die Schenkel entlang. Ich bekomme panische Angst. Ich bekomme panische Angst, mich nicht mehr gegen sein Schreien wehren zu können. Angst, dass der Bühnenbildner und Johan sich gestört fühlen und fragen, warum er so schreit. Angst, dass ich hier sitze und versuche, Rücksicht auf sie zu nehmen, wo es eigentlich doch umgekehrt sein müsste. Was zum Teufel macht dieser Bühnenmensch eigentlich hier? Ich brauche Johan jetzt, hier neben mir auf dem Sofa. Ich erkenne, dass ich allein bin. Ich muss ganz offensichtlich allein mit dieser Situation fertig werden. Ich bringe Sigge nicht dazu, an der Brust zu saugen, obwohl er so hungrig ist. Ich bekomme panische Angst, weil ich von diesem Baby okkupiert worden bin.
Ich nehme Sigge auf die Schulter und trage ihn durchs Zimmer. Er hört auf zu schreien, und ich spüre, wie sein kleiner Körper sich entspannt. Ich lege Nina Simone auf und tanze mit ihm und lasse mein Weinen heraus. Ich schluchze leise, damit Johan und der Bühnenbildner mich nicht hören. Ich sehne mich ins Krankenhaus zurück. Ich sehne mich nach dem roten Knopf, den man drücken konnte, wenn man Hilfe brauchte. Ein Klingeln, und dann kamen freundliche Hebammen mit beruhigenden Worten und sanften Händen. Im Krankenhaus war ich nicht allein.
Am nächsten Tag kommt ein Schriftsteller, mit dem Johan einige Projekte geplant hat. Sie schließen
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