Bitterfotze
schlafen!«, sagt Mutter.
Am nächsten Morgen höre ich, wie Mutter versucht, Ann-Marie zu erklären, dass Vater mitten in der Nacht abgehauen ist.
»Er war so unanständig zu mir, verstehst du«, sagt Mama, »er hat einfach das Auto genommen und ist losgefahren.«
Ann-Marie fragt etwas und Mutter antwortet: »Ich weiß nicht. Aber er war so unanständig zu mir.«
Mehr sagt sie nicht, und Ann-Marie fragt auch nicht nach. Wir frühstücken, und ich sehe den großen schlanken Mann allein an einem Tisch weiter weg sitzen. Ob er wohl alles gehört hat?
Wir packen unsere Sachen und gehen zum Bahnhof. Lars und Ann-Marie und deren Kinder sind schon am Strand, sie können uns nicht begleiten und auf Wiedersehen sagen. Wir schämen uns alle, denke ich. Aber vielleicht hat Ann-Marie nicht verstanden, was es bedeutet, dass Vater unanständig zu Mutter war?
Mein Vater bezahlt immer alles, und meine Mutter muss um Geld bitten, wenn sie welches braucht. Dann holt er die vielen Scheine heraus und gibt ihr welche. Aber heute Nacht habe ich gesehen, dass er seine dicke schwarze Brieftasche mitgenommen hat. Sogar Kajsas Geld hat er genommen.
»Haben wir genug Geld, um Fahrkarten zu kaufen?«, frage ich Mutter am Bahnhof.
»Ja, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagt sie und kauft Süßigkeiten für mich und Kajsa.
Wir fahren viele Stunden schweigend durch das sommerliche Schweden. Gelbe Felder und dichter Wald. Ich schwitze, aber mir ist nicht übel wie sonst immer im Auto.
»Lasst ihr euch jetzt scheiden?«, frage ich meine Mutter.
»Nein«, sagt sie, aber ich glaube ihr nicht. Als wir nach Hause kommen, sitzt mein Vater hinter dem Haus und raucht. Ich bin erleichtert, dass er heute Nacht keinen Unfall hatte und nicht tot ist. Aber ich sage ihm nicht guten Tag und weiche seinem Blick aus.
Ich gehe zum Park, um zu sehen, ob ich dort noch Freunde finde. An Sommerabenden spielen immer alle, die zu Hause sind, Räuber und Gendarm, das spiele ich am liebsten, aber an diesem Sommerabend ist niemand draußen und spielt. Sie sind wohl alle in Ferien. Wie wir es auch waren.
Nach einer Weile gehe ich wieder nach Hause. Ich sehe meinen Eltern an, dass sie sich wieder vertragen. Meine Mutter rührt Rhabarberpudding und richtet Brote zum Abendessen. Als ob nichts passiert wäre. Ich sehe in der Küche ihren Rücken und denke, dass ich sie nicht verstehe. Ich kenne sie nicht.
Ich habe immer noch kein Wort mit meinem Vater gesprochen und tue es auch jetzt nicht. Er versucht, meinem Blick zu begegnen, aber ich wende ihm den Rücken zu und gehe dann in mein Zimmer und ins Bett.
Zum ersten Mal in meinem Leben wünsche ich mir, dass sie sich tatsächlich scheiden lassen.
Tun sie aber nicht.
Am Abend bete ich zu Gott, bete alles Mögliche. Was ich haben möchte, was passieren soll. Es ist ein gutes Gefühl zu denken, dass es ihn da oben gibt und er mich sieht und mir zuhört.
»Die schönste Art, Gott zu huldigen, ist für ihn zu singen«, sagt unsere christliche Grundschullehrerin. Ich trete sofort in den christlichen Chor in der Freikirche ganz in unserer Nähe ein. Viele meiner Klassenkameraden sind auch im Chor, und jeden Mittwochabend singen wir Gott zu Ehren.
Die Chorleiterin heißt Eva, sie ist groß und dick und spricht värmländisch. Ich liebe es, die christlichen Lieder zu singen, und ich singe mit lauter, heller Stimme. Ich mag meine Stimme. Nur manchmal sagt Eva, ich solle nicht so laut singen.
»Du überstimmst die anderen, Sara!« Dann singe ich ein bisschen leiser.
Dies ist der Tag
Dies ist der Tag
Den der Herr erschaffen hat Den der Herr erschaffen hat
Lasst uns in Freuden
Lasst uns in Freuden
Gott danken, ja Gott danken
Ich möchte so gerne an Christus glauben. In der Kirche gibt es eine Gemeinschaft, die ich sehnsuchtsvoll betrachte, ich kann sie fast spüren. Die Eltern der anderen Kinder im Chor gehören zur Gemeinde, alle außer mir. Aber ich hoffe und bete jeden Abend zu Gott, dass meine Eltern christlich werden und in die Kirche kommen. Dass sie aufhören zu streiten und lieb werden.
Lieber guter Gott, bete ich, mach, dass meine Eltern in die Kirche kommen und mich im Chor singen sehen.
Aber sie kommen nicht. Und jeden Sonntag im Gottesdienst lässt Eva alle anderen solo singen, nur mich nicht. Schließlich frage ich sie, ob ich auch irgendwann mal solo singen darf.
»Ja, irgendwann vielleicht. Es liegt nicht an deiner Stimme, Sara. Aber die Eltern der anderen Kinder sind in der Kirche, die wollen
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