Bitterfotze
ihre Kinder singen hören. Das verstehst du doch, es ist wichtiger, dass sie singen dürfen, wo doch die Eltern da sind und zuhören?«
Das verstehe ich. Aber es tut trotzdem weh. Es brennt hinter meinen Augenlidern, und meine Strumpfhose kratzt fast immer.
Ich höre mit dem Chorsingen auf und fange an zu zeichnen. Große dicke Evas, die sich in Engel verwandeln und hinauffliegen zu Gott. Manchmal verlieren sie ihre Flügel, fallen herunter und sind tot.
Ich zeichne, dass ich eine Prinzessin bin mit einem lieben Königsvater und einer schönen Königinmutter. Sie lieben mich über alles, und wir gehen jeden Tag in unserem großen Garten spazieren und sprechen miteinander.
Der König interessiert sich für mich. Fragt mich, was ich lieber mag, zeichnen oder singen? Zeichnen, sage ich.
Die Königinmutter ist verzweifelt. »Mein geliebtes Kind, wo du doch so fantastisch singst! Du darfst nie aufhören zu singen!«
Aber der Königsvater sagt, ich kann zeichnen und singen.
Stundenlang sitze ich an meinem Schreibtisch und zeichne. Lange Geschichten, die mich fröhlich machen. Mit einem besonders schönen Bild, auf dem wir alle drei in unserem Schlossgarten sind, gehe ich hinunter zu meinen Eltern. ›Für Mama und Papa‹ schreibe ich darüber.
»Hier. Das habe ich gemalt.«
»Das ist aber schön!«, sagt meine Mutter und spült weiter.
»Aber du hast es ja gar nicht angeschaut.«
»Doch, habe ich wohl«, sagt Mutter und dreht sich ein wenig um.
Sie kann das Bild nicht nehmen, weil sie nasse Hände hat.
Ich lege das Bild neben das Telefon und hoffe, dass sie es an den Kühlschrank klebt.
Aber es bleibt liegen und eines Tages nehme ich es und zerknülle es. Ich werfe es demonstrativ in den Müll.
»Warum seht ihr euch nie etwas an!?«, schreie ich und laufe hinauf in mein Zimmer, Tränen fließen mir über die Wangen.
»Mein Gott, was war denn das?«, höre ich meinen Vater fragen.
Ich denke an all die gläubigen Christen, die ich kenne. Meine beste Freundin Mariella und ihre Familie, die scheinen glücklich zu sein. Ich habe nie gesehen, dass ihre Eltern streiten oder hässliche Dinge zueinander sagen. Mariellas Mutter ist meine Tagesmutter, Mariella und ich gehen also jeden Tag nach der Schule zu ihr nach Hause. Manchmal bekommen wir Hagebuttencreme und Eis, Mariellas Mutter scheint nie gestresst zu sein. Sie setzt sich an den Tisch und fragt uns, wie es war.
Eines Tages nimmt sie mich, zieht mich zu sich und umarmt mich fest und lange.
»Mhmm …«, sagt sie und riecht an meinen Haaren, ganz so, als würde es ihr gefallen.
»Warum hast du das gemacht?«, frage ich erstaunt.
»Ich fand, du siehst aus, als würdest du eine Umarmung brauchen«, sagt sie und lächelt mich an.
Ich lächle nicht zurück, ich will ihr die Tränen nicht zeigen, die hinter den Lidern brennen und jeden Moment fließen werden. Ich sage stattdessen »Aha« und gehe hinauf in Mariellas Zimmer.
Manchmal fantasiere ich, dass meine Eltern bei einem Autounfall sterben und ich von Mariellas Eltern adoptiert werde. Oder von der Lehrerin. Sie ist auch gläubig, und sie ist der beste Mensch, den ich kenne. Sie weiß so viel und erzählt lange Geschichten aus der Bibel. Manche kenne ich, ich habe nämlich von meiner Großmutter eine Kinderbibel zu Weihnachten bekommen. In der habe ich gelesen, wie gut Jesus war und wie viele dumme, böse Menschen es gab, die nichts verstanden. Die Lehrerin ist die Leiterin der Jungschar in der Freikirche, und fast die ganze Klasse ist jeden Mittwochabend dort. Diejenigen, deren Eltern auch in der Freikirche sind, haben den höchsten Status, und ich träume davon, dass meine Eltern auch dazugehören. Ich frage mich, wie es wohl ist, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst mit der Lehrerin zusammen zu sein.
Die gläubigen Christen sind immer fröhlich, und ich bin sicher, dass auch meine Eltern glücklich würden, wenn sie nur gläubig wären.
Ich schreibe mit meiner schönsten Handschrift in mein hellblaues Tagebuch:
Lieber Gott. Mach, dass Mama und Papa gläubig werden. Danke auch, dass du so gut bist, lieber Gott, dass du es hast schneien lassen. Das ist schön.
Aber Gott liest wohl keine hellblauen Tagebücher, denn meine Eltern werden nicht gläubig. Sie streiten sich, und ich weiß, dass sie unglücklich sind. Vater ist wochenlang unterwegs, und Mutter ist so vollauf damit beschäftigt, zu kochen, zu spülen und Staub zu saugen, dass sie für nichts anderes Zeit oder Kraft hat.
Eines Tages möchte
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