Bittersüße Heimat.
nehmen.«
Meine Tante hat ein schwarzes Tuch über ihren Kopf geworfen und sitzt kerzengerade am oberen Ende des Salons. Auf der anderen Seite haben der General und die übrigen Männer Platz genommen. Ein ununterbrochener Strom an Menschen findet sich ein: Ich zähle achtzig bis hundert Gäste. Alle telefonieren und verbreiten die Kunde vom Tod des Onkels. An einem Freitag ist er gestorben, das muss ein guter Mensch gewesen sein, meint ein Besucher. Noch besser wäre es gewesen, ihn auch am Freitag zu beerdigen, aber das ist einfach nicht zu schaffen. Wie sollen Verwandte und Bekannte aus Zentralanatolien und anderswo, von denen manche tausend Kilometer anreisen müssen, rechtzeitig hier sein?
Ich ziehe mich in das hintere Zimmer zurück, wo ich mich vor das Foto stelle, das meinen Onkel mit Atatürks Nachfolger, Ismet Inönü, zeigt. Damals muss Enischte etwa dreißig Jahre alt gewesen sein. Das goldgerahmte Bild, das er wie seinen Augapfel hütete, wurde von Inönü mit einer Widmung bedacht: »Wenn in einem Land die Ehrwürdigen sich nicht so entschlossen durchsetzen wie die Ehrlosen, dann ist das Land verloren.«
Als später am Abend der Bruder meiner Tante aus Gaziantep, einer Großstadt an der syrischen Grenze, eintrifft, ist die Witwe sehr erleichtert. Der Onkel war bei der Geheimpolizei und ist nun Rentner. Seine Frau hatte schon dreimal angerufen, wir sollten ihn unbedingt vom Busbahnhof abholen, er sei so verwirrt. Doch er hat es allein geschafft, steht vor der Tür und umarmt seine trauernde Schwester. Und als er uns Nichten alle nacheinander küsst, ruft er fröhlich: »Mensch, ihr Pistazien wollt einfach nicht älter werden!« Er freut sich, uns zu sehen.
Die Haci Hanim
Noch ist meine Tante sehr gefasst, regungslos sitzt sie inmitten der Frauen und schaut immer wieder in Richtung Tür. Endlich taucht ihre große Schwester aus Kayseri auf, tief verschleiert und gerade als Haci Hanim von der Pilgerreise aus Mekka zurückgekehrt, genießt sie in der Familie große Achtung. Für meine Tante war sie die »kleine Mutter«, auf deren Rücken sie durchs Dorf getragen worden war. Nun ist die Schwester endlich da, und die Verlassene kann sich wie ein kleines Kind in ihre Arme fallen lassen. Laut weinend rufen die beiden Frauen Allah an.
Gegen Abend ist kein Stuhl, kein Zimmer in der Wohnung mehr frei. Im großen Salon sitzen die Männer. Die Frauen sind in der Küche oder verteilen sich nach Familienzugehörigkeit auf die drei Schlafzimmer. Selbst unter den säkularen Türken teilt sich die Gesellschaft in Männer und Frauen. Im kleinen Arbeitszimmer des Onkels versammeln sich die Frauen aus Pinarbashe und dem »Weiten Tal«. Im Gästezimmer hält sich die Familie des Sohns aus Trabzon auf. Ganz hinten sind die jungen Leute, die ihre Familien begleiten. Es wird Tee serviert und Gebäck verteilt. »Esst, esst«, sagt eine Tante, die mit dem Tablett herumgeht. »Esst für unseren Toten, für seine Seele.«
Traditionell wird den Trauergästen drei Tage lang lokma , türkischer Krapfen, gereicht, die Kinder verteilen das Gebäck auch an die Nachbarn. Am Nachmittag liefert eine Bäckerei baklav a und kadayif , Blätterteigpasteten und Süßgebäck. Dazu wird Ayran oder Tee serviert. Drei Frauen sind ununterbrochen mit Spülen beschäftigt.
Von Zeit zu Zeit sind die Aufschreie meiner Tante aus dem Salon zu hören, dann wissen wir, eine weitere Verwandte ist gekommen. Eine Frau mit Kopftuch, geblümtem Rock und Strickweste stürzt herein und wirft sich schreiend zu Boden: »Oh, du Sohn des Himmels, warum bist du gegangen, mein Bruder, mein Vater, mein Freund!« Sie ist nach der älteren Schwester die erste Besucherin an diesem Tag mit Kopftuch und in der traditionellen Bauernkleidung, eine entfernte Verwandte aus dem Dorf meines Onkels. Erst nach minutenlangem Klagen setzt sie sich. Als ich am Morgen die Leichenhalle verließ, kam mir eine Krankenschwester mit einem jungen Mädchen am Arm entgegen, das den Toten sehen wollte. Jetzt sitzt es neben ihrer laut weinenden Mutter, die türkische und tscherkessische Klageverse spricht. Dabei schaukelt sie mit dem Oberkörper vor und zurück, ihre Tochter schaut zu Boden. Als die alte Frau irgendwann verstummt, wird es ganz still in der überfüllten Wohnung.
Große Reden
Nur nebenan, bei den Männern, wird heftig politisiert. »Er wird die Wahl haushoch verlieren, der Herr, der uns die Scharia bescheren will. Er wird kriegen, was er verdient. Unsere demokratische
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