Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
Vom Netzwerk:
Republik wird ihn in die Schranken weisen. Schaut auf unsere Leute, wir haben immer wieder bewiesen, wer die wahren Demokraten in diesem Land sind!«, ruft der General in die Runde. Er spielt auf die Großkundgebungen an, die in diesen Tagen statt finden und bei denen Millionen gegen die Präsidentschaftskandidatur von Abdullah Gül, dem Kandidaten der islamischen AKP , demonstrieren. Der General führt das Wort, und die anderen nicken ihm ehrfurchtsvoll zu. Niemand würde es wagen, ihm zu widersprechen oder auch nur in einen Dialog mit ihm einzutreten, denn er ist die Autorität und der Älteste zugleich. Seine Ausführungen enden meist mit der Formel: »So dachte auch mein alter Freund, der Verstorbene, nur icinde yatsin, möge er im Licht gebettet sein.« Dann geht ein Raunen durch den Salon, und Stille tritt ein, bis der General eine neue Seite im Geschichtsbuch der glorreichen Türkei und der tapferen Türken aufschlägt: »Wir sind von den Dörflern überrumpelt, ja, hinters Licht geführt worden«, doziert er – so schnell, wie die an die Macht gekommen seien und nun überall »ihre Finger drin« hätten. Sogar die Schulen würden nur noch Islamisten als Lehrer einstellen, der Beamtenapparat sei unterwandert, in seiner eigenen Republik sei man vor ihnen nicht mehr sicher. Aber die Antwort des Militärs werde nicht lange auf sich warten lassen, droht er, die Islamisten sollten nicht glauben, dass sie das Militär immer weiter reizen könnten. General Büyükanit habe ja schon ein klares öffentliches Wort gesprochen, und die Wahlen würden zeigen, wer hier Herr im Hause sei.
    So laufen »Diskussionen« meist ab. Die Ältesten reden und verkünden ihren Standpunkt, die Jüngeren schweigen aus »Respekt« vor dem Alter oder Rang. So kommt nie ein wirklicher Meinungs- oder Informationsaustausch zustande, sondern die Meinungen der Älteren werden an die Jüngeren weitergereicht. Diese hören höflich zu und denken sich ihren Teil. Mit dem fatalen Ergebnis, dass die republikanische Bewegung sich jahrzehntelang selbst feierte, sich nirgendwo der Kritik stellen musste und gar nicht bemerkte, dass sie langsam und schleichend von einer anderen Partei abgelöst wurde, die noch gewissere Gewissheiten zu bieten hatte und es verstand, sich die Sorgen der armen Leute anzuhören und als deren Fürsprecher aufzutreten. Der erste Wahlsieg der AK P 2002 überraschte die Kemalisten so sehr, dass sie ihn jahrelang für einen politischen Irrtum, für eine Art Betriebsunfall hielten, so wie der General, der darauf keine andere Antwort weiß, als immer nur wieder die alte kemalistische Türkei zu beschwören. Einige Monate später wurden er und seine Zuhörer wieder einmal von dem Sieg der AK P »überrascht«, sowohl bei den Parlaments- wie bei den Präsidentschaftswahlen. Das Volk traut den Vertretern der alten Republik nicht mehr.
    Ich versuche, um besser zuhören zu können, einen freien Stuhl im Salon zu ergattern, und schaue in die Runde. Ungefähr fünfzig Männer sitzen in dem vierzig Quadratmeter großen Raum. Die Blicke, die sie mir zuwerfen, sind eindeutig: Was willst du hier? Nach zehn Minuten verdrücke ich mich in die Küche und denke an meinen Onkel, dem die Reden seines Freundes gefallen hätten, und wünsche ihm, dass er in der Truhe nicht allzu sehr friert. Um Mitternacht verabschiede ich mich aus dem Trauerhaus, wo immer noch geweint, debattiert und Tee getrunken wird.
    Requiem
    Ich fahre mit meiner Schwester und ihrem Sohn in ihre Wohnung ans andere Ende der Stadt. 1923, als Atatürk Ankara hauptsächlich aus strategischen Gründen zur Hauptstadt machte, war es ein Provinznest mit 35.000 Einwohnern, inzwischen ist die Stadt zu einer wuchernden Millionenmetropole geworden, deren Autobahnen wie breite Ströme kreuz und quer das Stadtgebiet durchschneiden. Wir brauchen fast eine Stunde, um zu der Wohnung in einem der vielen Neubaugebiete zu kommen. Die Wohnung in einem zehnstöckigen Mietshaus ist schnell und billig erbaut, denn immer noch hält der Zuzug in die Stadt an, immer mehr Wohnraum wird gebraucht.
    Wir können nicht schlafen und hören stumm Mozarts »Requiem«. Die CD hatte ich bei meiner Abreise aus Berlin noch schnell in die Tasche gesteckt, ich wusste, ich würde sie brauchen. Am nächsten Morgen mag keiner von uns etwas essen, uns steht der Tag der Beerdigung bevor. Alle werden da sein, meine Mutter, Tanten und Onkel, Schwäger und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen. Und alle werden ihre Familien

Weitere Kostenlose Bücher