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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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mitbringen. Zum Mittagsgebet gegen zwölf Uhr muss der Sarg vor der Moschee stehen.
    Als wir wenig später in die Trauerwohnung kommen, sind bereits weitere Gäste da. Meine Tante sitzt wieder im Salon, das schwarze Tuch über dem Kopf. Ihre drei Töchter laufen zwischen den Gästen mit Teetabletts hin und her. Eine Stunde später trifftmein Onkel aus Deutschland ein. Distanziert begrüßt er seine Schwester, mich würdigt er keines Blickes. Vor Jahren hat es einen Riss in unserer Beziehung gegeben. Er hat für seinen Sohn eine Braut nach Deutschland geholt und ist in fortgeschrittenem Alter zu einem eifrigen Moscheegänger geworden. An den Geburtstagen seiner Enkelkinder werden keine Kinderlieder, sondern Koransuren gespielt. Ich passe nicht mehr in seine Welt.
    Auch der General ist wieder da und fungiert jetzt als Zeremonienmeister. Mein Onkel Enischte wollte noch einmal am Haus vorbeigefahren werden, das war sein Wunsch, und auch alles Weitere hat er seinem Freund diktiert. Wir fahren alle mit dem Aufzug nach unten. Auf dem Parkplatz quetschen wir uns zwischen die Autos und stehen stramm wie zum Appell, als der Leichenwagen vorfährt. Der mit einem grünen Tuch bedeckte Sarg wird aus dem Wagen gehoben und zwischen den Autos abgestellt. Die Töchter und der Sohn erstarren, als der Fahrer den Deckel öffnet. Enischte steckt in einem schneeweißen, dicken Leinensack. Am Kopf ist er verschnürt. Als der Bestatter den Bindfaden aufmachen will, ruft meine Tante erschrocken: »Nein!« Sie beugt sich zu der Leiche hinunter und legt zärtlich die Hand auf den Kopf des Toten. Dann wird der Sarg wieder verladen, den ich noch hastig mit drei dunkelroten Rosen schmücke. Und dann geht alles sehr schnell, der Leichenwagen fährt voran und wir folgen ihm in den Autos und Kleinbussen im Konvoi – keine leichte Sache, in Ankaras Samstagsverkehr den Anschluss zu halten.

»Bleibt stehen, Frauen!«
    In unserem letzten Telefongespräch hatte Enischte von dem strahlend blauen Himmel über Ankara gesprochen, der den Frühling ahnen lasse. Ein solcher Tag ist auch heute, als wir meinem toten Onkel durch die mit Atatürks Bild und vielen Fahnen geschmückte Stadt folgen – als hätte sie sich für ihn herausgeputzt. Die Beflaggung gilt der Vorbereitung auf den 23. April, den Gedenktag der Großen Nationalversammlung der Türkei, die 1920 in Ankara einberufen wurde. In den Schulen werden Feiern abgehalten, patriotische Verse vorgetragen und alle schwören auf die Republik: En büyük türk Atatürk , was – je nach Auffassung – »Der Türke ist der Größte . Atatürk« oder »Der größte Türke ist Atatürk« bedeutet . Ein kleiner , aber feiner Unterschied .
    Wir fahren an heruntergekommenen Häusern der Altstadt vorbei. Hier leben die Alteingesessenen noch in Lehmhäusern wie zur osmanischen Zeit. Die Frauen tragen schalvar , Pluderhosen, und halten Strickzeug in den Händen. Staunend blicken sie uns nach, als wir die engen Gassen passieren. Ein Trauergast im Auto beschwert sich über diese »Elendsbeschau«. Ob es denn keine anderen Straßen gebe, um die Moschee zu erreichen. Was sollen die auswärtigen Gäste denn von der Hauptstadt der Türken denken?
    Mein Onkel hat sich die älteste Moschee Ankaras für seine Aussegnung ausgesucht. Die Arslanhane-Moschee wurde im 13. Jahrhundert am Südhang des Zitadellenhügels aus Natursteinen errichtet. Im Mauerwerk sieht man noch Fragmente aus der Zeit der Römer und der Byzantiner. Vor der Moschee ist ein großer Platz mit Steinsockeln, auf denen die Särge aufgebahrt werden. Auch mein Onkel liegt nun auf so einem Stein, das Gesicht gen Mekka gerichtet, und die Sonne scheint ein letztes Mal auf ihn. Die Moschee ist voller Männer, einige leihen sich ein Stück Pappkarton und knien vor der offenen Tür der Moschee, die wegen der vielen dicht beieinanderstehenden Säulen im Betraum auch »Waldmoschee« genannt wird.
    Kaum jemand von uns geht zum Beten hinein, auch die Männer nicht. Die alte türkische Mittel- und Oberschicht geht nicht in die Moschee und kniet nicht auf dem Boden, um sich Allah zu unterwerfen. Wir, Männer wie Frauen, verharren im Stehen draußen vor dem Sarg, der General in der ersten Reihe. Dass wir Frauen überhaupt dabei sind, ist ungewöhnlich und veranlasst einige der zum Gebet eilenden Gläubigen zu irritierten Blicken. Der Muezzin ruft per Lautsprecher über den Platz Allah akbar , Allah ist groß. Am Kopfende des Sarges hat sich Enischtes Sohn zur Totenwache

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