Bittersüße Heimat.
aufgestellt. Ein Foto meines Onkels wird an die Trauernden verteilt, und mit einer Stecknadel heften wir sein Bild auf die Kleidung über unseren Herzen.
Immer neue Trauergäste treffen ein. Meine Mutter wird von den Kindern meines älteren Bruders begleitet, er selbst ist krank und muss zu Hause in Istanbul das Bett hüten. Plötzlich stehtseine Exfrau vor mir. Vor vielen Jahren hatte sie meinen Abi wegen »Ehrverletzung« angezeigt, weil er sie verlassen und eine Beziehung mit ihrer Cousine angefangen hatte. Die beiden waren untergetaucht, aber die Polizei spürte sie auf. Ihn sperrte man für einige Monate ins Gefängnis, die junge Frau wurde von ihrer Familie nach Urfa entführt und im Haus gefangen gehalten. Monate später konnte sie mithilfe eines Arztes fliehen. Fast zehn Jahre haben sich die beiden dann mitten in Istanbul vor der kurdischen Familie seiner geschiedenen Frau verstecken müssen. Nie mehr wollte ich dieser Frau begegnen, nie mehr ein Wort mit ihr reden. Als sie auf dem Platz auf mich zueilt und mich mit einem Kuss begrüßt, als sei nie etwas geschehen, versuche ich, Haltung zu bewahren. »Mich liebte er ganz besonders, deshalb musste ich kommen«, sagt sie. »Ach ja? Sicher war er wie ein Vater, ein Freund und wie ein Bruder zu dir«, erwidere ich in leicht sarkastischem Tonfall. »Ja«, sagt sie, »woher weißt du, dass er mir so nahe stand?« »Wer weiß das nicht«, antworte ich. Zum ersten Mal frage ich mich, warum der Onkel immer so freundlich zu jedem sein musste.
Das Mittagsgebet ist zu Ende. Nun soll das Trauergebet vor den Särgen gesprochen werden. Neben meinem Onkel ist noch ein Sarg aufgebahrt. Der Deckel ist geöffnet, eine alte Frau liegt im Sarg, irgendjemand hat einen Mantel über die Tote gelegt. Drei Männer in ärmlicher Kleidung stehen um den Sarg herum.
Viele, meist junge Männer strömen aus der Moschee. Sie drängen sich vor, schieben uns Frauen nach hinten, murmeln, wir sollen weggehen. Wir Frauen der Familie wollen uns aber nicht vertreiben lassen, wir bleiben direkt hinter den Särgen stehen. Meine Mutter hakt sich bei mir und meiner Schwester unter, auch die anderen Frauen rücken zusammen, fassen sich an den Händen, sodass eine Reihe von Frauen trotzig am Sarg verharrt. Traditionell ist das Begräbnis Männersache und wird nur von Männern durchgeführt. Aber seit die an Frauen verübte Gewalt auch in der Türkei immer häufiger bekannt gemacht wird, nehmen Frauen oft demonstrativ an Beerdigungen teil, besonders wenn eine durch Ehrenmord ums Leben Gekommene zu Grabe getragen wird. Meine Mutter, die ein Leben lang bevormundet wurde, sich aber im Alter nichts mehr gefallen lässt, ruft: »Bleibt stehen, Frauen!« Ich bin in diesem Moment sehr stolz auf meine Familie.
Der Hodscha steht zwischen den Särgen, spricht das Bittgebet für den Onkel und fragt dann die Gemeinde, ob der Verstorbene bei jemandem in der Schuld stehe? Hakkini helal edin – möge sie ihm vergeben sein. Und die auf dem Platz Versammelten antworten: »Amen«. Der Erlass der Schulden richtet sich an die Lebenden wie an die Toten. Wer in der türkisch-islamischen Gesellschaft von einem Freund Gutes erfahren hat, der steht in dessen Schuld, die er durch gleichwertige, möglichst aber höherwertige Gefälligkeiten ausgleichen möchte. So würde er eine Bitte seines Gläubigers niemals ablehnen, auch wenn er durch sie überfordert wäre. Kann er sie nicht erfüllen, quält ihn Scham. Es geht bei dieser Art von Schulden nicht um finanzielle Verbindlichkeiten, sondern um die Beziehungen untereinander. Der Erlass ist kein individueller, sondern ein kollektiver Akt und soll die Ehre des Verstorbenen bewahren.
Der Hodscha segnet die beiden Toten und ruft wieder Allah ak bar . Hunderte sind auf dem Platz, rufen gemeinsam Allah akbar und wenden den Kopf zum Friedensgruß nach rechts und links.
Im Wickeltuch
Der Friedhof liegt weit außerhalb der Stadt, fast eine Stunde sind wir unterwegs. Er ist riesig, Tausende von Gräbern, fast alle in weißen Marmor gefasst, belegen einen ganzen Hang. Unter großen alten Bäumen laufen wir hinter dem Sarg her, der von den Männern der Familie getragen wird. Enischte hat für seine Eltern ein Familiengrab bauen lassen, dort wollte auch er beigesetzt werden. Mein Bruder und die Neffen heben die Leiche aus dem Sarg und reichen sie Enischtes Sohn nach unten in die Gruft. Meine Schwester, die bis jetzt stumm war, hebt laut zu weinen an, ich sehe wie gebannt zu. Der
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