Bittersüße Heimat.
Hodscha setzt sich auf ein Nachbargrab und beginnt singend die Sure »Yasin« zu rezitieren. Wie ein großes Baby liegt mein Onkel in den Armen der Männer, sieht in dem Leichentuch aus wie ein kundak , ein Baby im Wickeltuch. Enischte ist jetzt bei seinen Eltern, das ist ein gutes Gefühl, denn er war ihr einziges Kind. Danach wird Erde auf den Toten geschaufelt. Die älteste Tochter hat eine Gießkanne dabei und wässert damit die Erde, wir legen unsere Blumen dazu.
Der General stellt sich ans Grab und liest aus einem Brief vor, den er meinem Onkel noch geschrieben hat, aber nicht mehr abschicken konnte. Er erzählt von ihrer gemeinsamen Kindheit in der kleinen Stadt Pinarbashe und beschließt seine Rede mit den Worten: »Du warst ein Humanist, die Republik, du warst die moderne Türkei. Du lässt uns jetzt mit dem Auftrag zurück, dieses Erbe zu verteidigen. Dafür möchte ich dir danken und für die Freundschaft, von der ich nie genug haben konnte. Wir, die Älteren, werden dir bald folgen. Mein Freund, ruhe nun gelassen in den Armen deiner Eltern.« Wir verlassen den Friedhof. Hinter den Bäumen lauern kleine Straßenkinder und können es kaum erwarten, dass wir fort sind. Dann greifen sie sich die Blumen vom Grab und laufen davon. Als wir zum Parkplatz zurückkehren, können wir, so kommt es mir vor, unsere eigenen Blumen kaufen.
Alte Briefe
Das warme Essen, Huhn mit Reis und Gemüse, türkische Pizza und Salat, Karaffen mit ayran , auch baklav a und kadayif , sind bereits angeliefert, als wir von der Beerdigung zurückkehren. Erst werden die Männer versorgt, dann die Frauen und Kinder. Der Hodscha ist gekommen und beginnt, Koransuren zu singen. Erinnerungen aus meiner Kindheit überfallen mich, als meine Geschwister und ich am Zuckerfest, dem Fest des Fastenbrechens, fein herausgeputzt, vor dem Frühstück am Radio saßen und den Suren lauschten. Der Hodscha hat eine schöne Stimme. Es ist still und leise in der Wohnung, trotz der dicht gedrängten Menschen. In die feierliche Stille hinein klingelt erst ein, dann noch ein Handy. Zwei Frauen rennen ins Bad, schließen sich ein und reden so laut, dass im Salon jedes Wort zu verstehen ist: »Ja, gegen Mitternacht sind wir zurück, wir bringen auch etwas zu essen mit.« Die Frauen sind nicht von unserer Seite der Familie, meine Cousine aus Kayseri wirft mir einen vielsagenden Blick zu: Siehst du, wer nicht von uns ist, kann sich nicht benehmen.
Gegen Mitternacht sind die meisten Gäste gegangen. Im Salon nehmen die engsten Familienangehörigen Platz. Der Sohn des Hauses kommt mit einer großen Tüte mit Hunderten von Briefen, die mein Onkel gesammelt hat. Ein Zimmer der Wohnungist voll mit alten Büchern, Zeitschriften und Post aus den letzten Jahrzehnten seines Lebens, keinen Zettel hat er weggeworfen. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr hat er fast täglich politische wie private Ereignisse festgehalten. Jedem seiner Kinder und Enkelkinder hat er ein Tagebuch gewidmet, in dem er von Beginn der Schwangerschaft an alles notierte, was sie betrifft. Die Tagebücher stapeln sich bis unter die Decke, ein Vermächtnis an seine Nachfahren. Der Sohn liest aus einem Tagebuch vor, das Enischte für seine jüngste Tochter geschrieben hat: »An diesem schönen milden Sommertag, es ist der 6. Juni 1979, sitze ich mit Vater, unserem Sohn und unserer Jüngsten am Frühstückstisch. Vater fragt die Jüngste: Was wirst du heute Gutes tun, mein Kind? Das, was für uns und unser Land am besten ist, antwortet sie. Schaut euch dieses Weltwunderkind an, sage ich. Als Erstem kommen mir die Tränen, dann folgt mein großer weiser Vater, bis dann auch unser Sohn einstimmt.« Nachdem mein Cousin dies vorgelesen hat, schauen sich die Geschwister an. Enischtes Sohn war damals zehn, seine Tochter sechs Jahre alt. Alle sind peinlich berührt von dem Pathos, um nicht zu sagen: Kitsch. Die Schwester ruft zu ihrem Bruder hinüber: »Und du, Hornochse, warum musstest du eigentlich bei so einem Quatsch weinen?«
Beleidigt zieht er daraufhin einen Brief aus der Tüte, den der Onkel erst vor fünf Monaten von der Großnichte seiner Frau aus Kayseri bekommen hat, einem 17-jährigen Mädchen. Zehn Seiten ist er lang. Sie erzählt von einer Nacht, in der sie nicht schlafen konnte. Sie klagt, keiner wisse, wie gern sie lese und schreibe. Sie habe niemanden, dem sie anvertrauen könne, dass sie Schriftstellerin werden und als Diplomatin die ganze Welt bereisen wolle. Dann folgen selbst geschriebene
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