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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Millionen Frauen im Osmanischen Reich kaum Spuren. Die Turkologin Suraiya Faroqhi suchte für ihre historischen Studien über »Kultur und Alltag im Osmanischen Reich« 12
› Hinweis verzweifelt danach. Was sich finden lässt, sind eher Dokumente der Vertreibung der Frauen aus der Öffentlichkeit.
    Die fermans , die Anweisungen der osmanischen Sultane, verboten den Frauen den Aufenthalt an öffentlichen Orten ganz oder schränkten ihn räumlich und zeitlich stark ein. »Frauen dürfen ab sofort keinen kaymakci , Puddingladen, betreten«, hieß es beispielsweise in einer Verfügung aus dem Jahr 1603. »Frauen dürfen Vergnügungsparks, Ausflugsorte, nicht mehr betreten«, lautete ein Sultanserlass von 1787; und eine Fatwa von Osman III . aus dem Jahr 1756 ordnete an: »Frauen dürfen nur noch an vier Ta gen der Woche aus dem Haus.« Die ferman s schrieben den Frauen vor, wie kurz oder lang das Kopftuch, der Tschador oder der Kragen des Mantels zu sein hatten. Sie regelten, zu welcher Uhrzeit, in welchen Straßen und auf welchen Plätzen Frauen gehen durften, wann und wie sie reisen und welche Fahrzeuge sie dabei benutzen durften. »Frauen dürfen mit ihren Vätern und Söhnen nicht gemeinsam auf der Straße gehen. Sie dürfen nicht im gleichen Wagen fahren und auch nicht an bestimmten Plätzen vorbeilaufen«, hieß es im Jahr 1861.
    Der Einfluss des Westens
    Ende des 18. Jahrhunderts verstärkte sich der politische, militärische und ökonomische Druck auf das Osmanische Reich. Es musste sich modernisieren, wollte es nicht von Russland und den westeuropäischen Mächten erdrückt werden. 1839 wurde durch den gerade ins Amt gekommenen 16-jährigen Sultan Abdulmecit eine von seinem Vorgänger vorbereitete »heilsame Neuordnung«, Tanzimat-i Hayrire , erlassen, die den Untertanen Rechte garantieren sollte – unter anderem die Sicherheit ihres Lebens, ihrer Ehre und ihres Privateigentums. Eine öffentliche Rechtsprechung wurde eingeführt, die Gleichheit aller Religionsgemeinschaften festgeschrieben. 13
› Hinweis
    Die Folge der Reformen war ein stetig wachsender Einfluss westlicher Ideen auf die osmanischen Eliten. Westliche Kleidung kam in Mode, der Fes löste den Turban ab, die Männer legten die osmanische Tracht ab und zogen den Anzug an. Die Verwaltung wurde nach französischem Vorbild reformiert und das Land in Provinzen aufgeteilt. Ihre Gouverneure ernannte die Regierung, die Ämter wurden nicht mehr wie vorher verkauft.
    Frauen kamen in diesem Reformwerk nicht vor, konnten sich aber in der Tanzimat-Zeit einige Freiräume in der Gesellschaft erstreiten – manchmal auch mithilfe einzelner Männer. Die Einführung des Sekundarunterrichts für Mädchen und die Gründung eines Pädagogikums im Jahr 1870, zu dem auch Frauen zugelassen waren, lösten heftige Kontroversen mit der religiösen Richterschaft, der ulema , aus. 14
› Hinweis Schriftsteller und Publizisten der privilegierten Kreise Istanbuls schrieben über die Ausbeutung der Frau, ihre rechtliche wie soziale Beschränkung und setzten sich für die Abschaffung des Harems sowie für ein Verbot der Vielehe ein. Bildungschancen für Frauen wurden gefordert und – man staune – das Recht auf Erwerbstätigkeit. Partnerschaftliche Beziehungen zwischen Mann und Frau wurden ein Thema in der Literatur. Die Gedichte und Romane von Namik Kemal (1840–1888), der von seinem Pariser Exil aus zeitweilig die Zeitung der jungtürkischen Reformer, »Hürriyet«, redigierte, standen ganz in der Tradition der europäischen Romantik. Das war alles neu, ungewöhnlich und wurde von den religiösen Führern mit tiefem Misstrauen verfolgt.
    Dabei beschränkten sich die unter Sultan Abdulmecit verabschiedeten Reformen ohnehin nur auf die Elite der städtischen Bevölkerung, bei der analphabetischen Landbevölkerung Anatoliens kamen sie nicht an. So konnte der nächste Sultan, Abdulhamid II., sie auch wieder kassieren, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Technologische und wirtschaftliche Fortschritte waren willkommen, aber die Struktur der Familie, die religiöse Ausrichtung, die Stellung des Sultans – all das sollte unangetastet bleiben. Die Reformer wurden verfolgt, ins Exil oder in den Untergrund gedrängt, wo sie sich ab 1876 als jöntürkler , Jungtürken, zusammenfanden und sich 1907 im »Komitee für Einheit und Fortschritt« organisierten, das erfolgreich gegen den Sultan revoltierte. 1909 wurde Abdulhamid II. gestürzt und die Verfassung des Tanzimat

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