Bittersüße Heimat.
Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft. Sie beruht auf der Gleichheit von Mann und Frau«, heißt es bis heute in Artikel 41 der türkischen Verfassung. Die sozialen Realitäten sehen allerdings anders aus.
Trotzdem genossen die türkischen Frauen vor allem in der Mitte des 20. Jahrhunderts neue Freiheiten. In den Städten bildete sich so etwas wie ein öffentliches bürgerliches Leben heraus. Das Ende dieser liberalen Phase kam, als die Linken anfingen, diebürgerliche Gesellschaft als »kapitalistisch« zu bekämpfen, die Rechten »dem Kommunismus« den Kampf ansagten, die Kurden die Einheit der Republik auseinanderbomben wollten, die islamische Revolution des Ayatollah Khomeini im Iran die türkischen Islamisten stärkte und das Militär wiederholt putschte. In diesen Auseinandersetzungen der Männer wurde die Frauenfrage zum »Nebenwiderspruch«.
Der große Bruder der Abgeordneten
Auf einer Veranstaltung in Köln hatte ich eine Abgeordnete der AKP , der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kennengelernt, eine Ärztin, die Kopftuch trug und nicht müde wurde, die unter der AKP – Regierung erreichten Fortschritte für Frauen zu preisen. Hier und da gäbe es noch einige Probleme, die aber seien vorübergehender Natur, versicherte sie mir, ihre Partei würde alles anpacken. »Kommen Sie ins Parlament nach Ankara, dann zeige ich Ihnen alles«, bot sie mir an. Vier Wochen später war ich da.
Als ich wegen eines Termins im Büro der AKP – Abgeordneten anrufe, erklärt man mir allerdings, sie sei in dieser Woche leider nicht zu erreichen. Ich wähle ihre Privatnummer – sie sei leider in ihrer Praxis, lässt man mich wissen. Als ich sie nach wiederholten Versuchen endlich am Apparat habe, vertröstet sie mich auf einen späteren Termin. Beim vierten Anruf meinerseits gibt sie dann offen zu, dass sie sehr selten im Abgeordnetenbüro sei. Aber ich könne mir das Parlament dennoch gern ansehen, ihr Bruder werde mir alles zeigen, er sei ihr Büroleiter. Das war nicht das, was ich eigentlich wollte, aber ich telefoniere erneut mit dem Büro und melde meinen Besuch für den nächsten Tag an.
Besuchszeit
Das Parlamentsgebäude, 1939 von dem österreichischen Architekten Clemens Holzmeister entworfen, atmet mit seinen wuchtigen Steinflächen und Säulen etwas von der pathetischen Moderne, die funktional sein will, aber auch vor der großen Geste nicht zurückschreckt: ein breites Entree, das die Staatsführer und Militärsdurch ein riesiges Foyer auf direktem Weg zu ihren Logen gelangen lässt, während die Abgeordneten, da ihre Büros hinter dem Sitzungsgebäude liegen, quasi durch die Hintertür ins Parlament kommen.
Ein freundlicher Herr mittleren Alters holt uns an der Sicherheitsschleuse ab. Er stellt sich als Bruder und Büroleiter der Abgeordneten vor, der sich von seiner Stelle im Landwirtschaftsministerium hat beurlauben lassen, um seine Schwester zu unterstützen. Die Abgeordnetenbüros befinden sich auf einem großen Gelände mitten in einem Park. Man plane einen Neubau, informiert uns unser Gesprächspartner, denn das Parlament sei von ursprünglich 400 auf 550 Abgeordnete angewachsen, eine Folge des rapiden Bevölkerungswachstums. Jeder Abgeordnete habe ein Büro, das von einem Büroleiter und einem Assistenten oder Sekretär geführt werde. Die Hauptarbeit der Abgeordneten bestehe, neben den Parlaments- und Ausschusssitzungen, darin, sich die Nöte und Sorgen der Wähler anzuhören und diese, wenn möglich, zu beheben. Jeder Bürger könne von montags bis freitags das Parlament und seinen Abgeordneten besuchen.
Diese Gelegenheit nehmen an diesem Morgen über hundert Bürger wahr. Abgeordnete sind nicht nur politische Mandatsträger, sondern immer auch Anwälte und Lobbyisten ihrer Wähler. Auch vor dem Büro der AKP – Abgeordneten warten bereits einige Bittsteller. In den zwei Stunden, die wir dort verbringen, werden etliche vorgelassen. Ein Mann bittet darum, die Abgeordnete möge sich doch dafür einsetzen, dass seine Frau, die Lehrerin sei, nach Ankara versetzt werde. Ein anderer möchte, dass sie bei seinem Chef anruft, damit er endlich eine Lohnerhöhung bekommt. Und ein Dritter erkundigt sich, ob die Abgeordnete nicht dafür sorgen könne, dass er eine Arbeit findet. Der Büroleiter wird umstandslos als Ansprechpartner akzeptiert, schließlich ist er der Abi, der große Bruder der Abgeordneten, er ist somit eine Autorität. Er notiert sich die Fälle, sagt seine Hilfe zu
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