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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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zu unterscheiden und als »ehrbar« auszuweisen. Atatürk ließ sich durch die Reaktionen muslimischer Männer nicht beirren. Im November 1925 verkündete er seine Kleiderreform, Fes und Schleier waren fortan verboten. Auch Latife trug künftig weder Schleier noch Kopftuch.
    Flucht im Tschador
    Dabei hatte Atatürk der Tschador, von dem er die türkischen Frauen befreite, persönlich einst das Leben gerettet. Als der Staatsgründer aus Furcht vor einem Attentat aus dem Präsidentenpalast fliehen musste, lieh er sich von Latife einen Tschador und konnte so unentdeckt entkommen. Die Autorin Ipek Calislar erzählt in ihrem Buch »Latife Hanim« 18
› Hinweis diese Anekdote – und wurde dafür im August 2006 angeklagt. Sie habe mit dieser Geschichte die »Ehre« des Staatsgründers verletzt, so das Gericht. Der Prozess verlief glücklicherweise im Sande.
    Latife trat oft mit ihrem Mann bei Veranstaltungen auf, und Atatürk forderte alle Frauen auf, ihrem Beispiel zu folgen und sich zu emanzipieren: »Die Schwäche unserer Gesellschaft liegt in unserer Gleichgültigkeit gegenüber dem Status der Frauen«, mahnte er. Dem Islam traute er eine emanzipatorische Kraft nicht zu. Im Gegenteil: »Meine Herren!«, so der Vater aller Türken 1924 in Samsun, »auf der Welt gibt es mehr als dreihundert Millionen Muslime. Diesen werden ihre Erziehung und ihre Sitten durch ihre Eltern und ihre Hocas vermittelt. Leider ist es nun eine Tatsache, dass alle diese Menschen sich unter diesen oder jenen Ketten der Sklaverei befinden. Ihre moralische Erziehung und ihre Sitten haben ihnen nicht die moralische Größe gegeben, sich dieser Ketten der Sklaverei zu entledigen, und gibt sie ihnen auch nicht. Denn ihr Ziel ist nicht die nationale Erziehung.« 19
› Hinweis
    An die »innere Front«
    Während die Osmanen ihre Frauen ausschließlich auf die Rollen als Ehefrauen und Mütter eingeschworen hatten, wollte die Republik aus ihnen nationalbewusste Bürgerinnen machen. Erstmals erhielten Frauen bürgerliche Rechte, wenn auch noch nicht die volle Gleichberechtigung. Atatürk war nur zu bewusst, dass eine wirkliche Modernisierung des Landes ohne die Frauen nicht zu haben war: »Die neue patriotische Frau war immer noch Ehefrau und Mutter, aber sie hatte eine andere Mission, nämlich die Erziehung der Nation.« 20
› Hinweis Er sah ihre Aufgabe vor allem in einer »erfolgreichen Mutterschaft« und der Erziehung der Kinder. Dafür wurden die Rechte der Frauen bewusst gestärkt.
    Aber sosehr ihm daran gelegen war, die Frauen an der »inneren Front« zu wissen, so gestand er ihnen doch das Recht auf politische Mitwirkung nicht zu. 1923 untersagte er die Gründung einer Frauen-Volkspartei. 1930 erhielten Frauen das Wahlrecht, und seit1934 können Frauen auch ins Parlament gewählt werden, faktisch blieb ihr Einfluss aber bis heute unbedeutend.
    Latife beeinflusste ihren Mann in diesen Fragen sehr, politisch verstanden sie sich gut, aber als Ehemann war Atatürk wohl überfordert. Er war eben Staatsmann, seine Liebe galt der Türkei. Hinzu kam: Er blieb der Soldat, der er sein Leben lang gewesen war. Seine Nächte verbrachte er mit Kartenspielen und Raki. Vielleicht war dies auch der Grund für den Bruch zwischen den Eheleuten – trotz aller politischen Übereinstimmung, die sie miteinander verband. Als Politiker aber bewegte er viel.
    Der zeitgemäße Aufzug
    Die von Atatürk angeschobenen Reformen revolutionierten nahezu alle Lebensbereiche. Er organisierte den Staat neu, führte die lateinische Schrift ein, zog eine Alphabetisierungskampagne durch, reformierte das Scheidungs-, Sorge-, Erb- und Vormundschaftsrecht, verbot die Polygamie, forderte die Bürger auf, in einem »ordentlich-zeitgemäßen Aufzug« aufzutreten, verbannte Fes und Turban und ging beispielhaft bei all diesen Neuerungen voran. Auch er selbst sah sich als Erzieher der Nation.
    Das islamische Schariarecht wurde abgeschafft und durch das mit nur wenigen Änderungen ins Türkische übersetzte Schweizer Zivilgesetzbuch ersetzt. Das brachte allerdings nicht nur Verbesserungen mit sich. Im Familienrecht der Jungtürken hatte das erlaubte Heiratsalter bei 17 Jahren gelegen, jetzt wurde es auf 14 Jahre gesenkt. Frauen durften weiterhin nur mit Zustimmung ihrer Väter und Ehemänner berufstätig werden, der Mann war und blieb das Oberhaupt der Familie. Aber viele der Einschränkungen, denen die muslimischen Frauen unterlagen, wurden aufgehoben – zumindest auf dem Papier. »Die

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