Bittersüße Heimat.
und lässt den Bürgern Tee bringen. Niemand stört sich an unserer Gegenwart.
Fast entschuldigend weist der Büroleiter darauf hin, dass die Bearbeitung solcher Fälle die meiste Zeit beanspruche. Als Abgeordnete habe seine Schwester mit so vielen Dingen zu tun, diese Arbeit könne schließlich auch er erledigen. Ich bin erstaunt,mit welchen Anliegen die Menschen zu ihm kommen, das seien doch alles private Wünsche, deren Erfüllung nicht zu den Aufgaben eines Politikers gehörten. Er lächelt und erläutert, so sei das nun einmal in der Türkei, da hänge alles miteinander zusammen. Auch als Abgeordneter sei man ein »Teil der Familie«. Als wir uns erkundigen, ob Abgeordnete denn Nebentätigkeiten ausüben dürften, verneint er die Frage – ein Abgeordneter habe voll und ganz für das Volk zu arbeiten. Da er selbst, kaum hat er das gesagt, den Widerspruch zwischen seinen Worten und dem Handeln seiner Schwester bemerkt, brauche ich ihn gar nicht mehr auf den befremdlichen Umstand hinzuweisen, dass seine Schwester offensichtlich hauptberuflich Ärztin und nicht Abgeordnete ist – er wird von allein einsilbig.
Die Zehn-Prozent-Hürde
>Es gibt bei den Wahlen zum nationalen Parlament Direktmandate für jede der 81 Provinzen und Listenmandate, die entsprechend der Stimmenzahl im Mehrheitsverhältnis nach Bevölkerungszahl und Wahlstimmen vergeben werden. Die Parteivorstände selbst nominieren und platzieren die Kandidaten auf den Listen. Vor den letzten Wahlen wurde in türkischen Zeitungen darüber spekuliert, was ein Abgeordnetenmandat »kostet« und was es einbringt, denn jeder Direktkandidat muss den Großteil seines Wahlkampfes selbst finanzieren. Nur wenn eine Partei mehr als 10 Prozent der Stimmen erhält, kommt sie ins Parlament. Diese Regelung ist eine Erblast des letzten Militärputsches – das Militär wollte verhindern, dass extremistische Parteien ins Parlament einziehen. Bei der letzten Wahl blockierte diese Zehn-Prozent-Hürde die parlamentarischen Chancen anderer oppositioneller Kräfte. Nur 21 kurdischstämmigen Kandidaten aus dem Osten gelang der Sprung über ein Direktmandat ins Parlament, die sich zu einer Fraktion der Partei der demokratischen Gesellschaft, DTP , zusammenschlossen. Aktuell hat die AK P 340, die republikanische Volkspartei CH P 98, die Partei der Nationalistischen Bewegung MH P 70, die Demokratische Linkspartei 13 Mandate. Sechs Abgeordnete sind unabhängig oder gehören Splitterparteien an.
»Alles unsere Leute«
Wir werden vom Bruder der Abgeordneten ins Parlamentsrestaurant geführt. Am Nebentisch sitzen vier Männer. Drei von ihnen sind erkennbar vom Land, sie haben dicke Schnauzer unter der Nase und ihren besten schwarzen Anzug angezogen. Die ungewohnte Umgebung scheint sie nicht sonderlich zu beeindrucken. Der Vierte muss ein Abgeordneter sein.
Als wir unseren Begleiter auf die politischen Großdemonstrationen gegen die Wahl des AKP – Kandidaten Abdullah Gül zum Präsidenten ansprechen, lächelt er nur. Das seien doch eigentlich alles »unsere Leute«, sagt er. Als ich Zweifel anmelde und ihn darauf hinweise, dass sich die Demonstrationen doch eindeutig gegen eine Islamisierung des Landes gerichtet hätten, widerspricht er. Nein, die Menschen demonstrierten für die Republik und gegen die Einmischung von außen und von Seiten des Militärs. Niemand wolle das Land islamisieren. Nur seien nun mal die Muslime in der absoluten Mehrheit und würden inzwischen auch ihre Rechte einfordern und ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen.
Der Abgeordnete am Nebentisch gibt sich alle Mühe, seine drei Gäste aufzumuntern, die etwas verdrossen auf das vornehme Ambiente mit weißen Tischdecken und Kellnern im schwarzen Anzug reagieren: »Esst, meine Freunde, esst, so viel ihr könnt. Es geht alles auf meine Rechnung.« Kurze Zeit später verabschiedet er sich eilig mit der Entschuldigung, er habe eine unaufschiebbare Verabredung bei einer Bank.
Was denn an dem von Kemalisten und anderen erhobenen Vorwurf dran sei, die AK P würde alle neu zu vergebenden Posten mit Parteigängern besetzen, möchte ich vom Abi wissen. Ach, da jammerten doch nur jene, die den Staatsapparat jahrelang als ihre Pfründe betrachtet hätten. Jetzt seien eben andere dran, schließlich hätten sich auch die Mehrheitsverhältnisse im Parlament geändert. Dass mit dem Politikwechsel auch ein Kampf um Einfluss und Posten verbunden sei, will er gar nicht bestreiten.
Die drei Männer neben uns sehen gar
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