Bittersüße Heimat.
ausreichend geheizt. Wenn sie spät am Abend heimkehren, schlüpfen sie gleich unter die Heizdecken. Am Wochenende fährt man »zum Einkaufen«, um sich in einer der nächstgelegenen Shopping-Malls aufzuwärmen.
Auf solche Probleme mag die CHP – Frauenbeauftragte nicht eingehen, sondern verweist nur erneut darauf, wie gut die AK P es verstehe, Menschen für ihre Ziele einzuspannen, besonders die Kopftuch-Frauen. Die würden losgeschickt, um andere Frauen in den Armenvierteln zu besuchen, Betreuungsaufträge der Kommunen zu übernehmen und Teenachmittage zu veranstalten. Das beeindrucke andere Frauen. So habe die AK P es geschafft, mithilfe der Frauen eine große Wählerschaft hinter sich zu versammeln. Und so sei es auch zu erklären, dass sich immer mehr Frauen aus diesen Gebieten verschleiern.
Der Erfolg der AK P kam also nicht über Nacht, und die Islamisierung des Landes war kein Putschversuch, wie es manchmal dargestellt wird, sondern ein schleichender Prozess. Und auch wenn meine Gesprächspartnerin nichts davon wissen will: Die derzeitige politische Lage in der Türkei ist nicht nur in der Stärke der regierenden AK P begründet, sondern auch in der Schwäche bzw. Krise der Opposition. Das Versagen der kemalistischen Eliten, die es in achtzig Jahren nicht vermocht haben, aus der vom Militär gegründeten Republik eine funktionierende Demokratie zu machen, rächt sich heute bitter. Wer jahrzehntelang ausschließlich Wert darauf gelegt hat, Menschen zu »Türken« statt zu Demokraten zu erziehen, hat seine Chancen verspielt. Wer die sozialen Probleme des Landes systematisch ignoriert und mit Verachtung auf »die vom Land« herabgeschaut hat, muss mit Protest rechnen. Wer Kritik am »Vater der Türken« mit Blasphemie gleichsetzt, wer Atatürks Sprüche wie heilige Gebote zitieren lässt, der darf sich nicht wundern, wenn die Menschen dann doch lieber dem älteren Propheten und seiner Schrift folgen. Dass auch die AK P und ihre nationalistischen und islamistischen Verbündeten kein Interesse daran haben, eine Republik der Demokraten zu schaffen, steht auf einem anderen Blatt.
Mit und ohne Kopftuch
Serap und ich kommen auf die aktuellen Auseinandersetzungen um Abdullah Gül zu sprechen. Dass die AKP es gewagt habe, trotz der Putschdrohung des Militärs ihn zum Staatspräsidenten wählen zu lassen, sei schon bemerkenswert gewesen, meint sie. Aller dings habe die Drohung der Armee bei der Aufstellung von Gül die Bürger auch erschreckt. »Kaum einer, nicht einmal aus meinem Umfeld, würde eine militärische Intervention gutheißen.« Darin stimmt sie mit dem Bruder der AKP – Abgeordneten völlig überein. »Die Demonstrationen, die jetzt von den Bürgern initiiert wurden, sind auch eine Antwort auf das Militär. Die Türkei ist kein demokratisches Land. Wenn wir das werden wollen, dann geht das nur mit Bürgerbeteiligung und Demonstrationen.«
Ich erzähle ihr, wie sehr mich irritiert, dass aus dem anfänglichen Protest gegen die Islamisierung aus meiner Sicht inzwischen eher Demonstrationen für die »Fahne« und für das Türkentum geworden sind, an denen sich vor allem die Nationalisten zu beteiligen scheinen.
»Wer in diesem Land für Rechte auf die Straße geht«, antwortet sie, »muss immer mit Gewalt seitens des Staates rechnen. Diesmal aber sind diejenigen, die sich für einen laizistischen Staat einsetzen, ohne Angst auf die Straße gegangen. Das ist neu. Die Sorge, dass durch die AK P und ihre Alleinherrschaft der Laizismus gefährdet sein könnte, hat selbst manche Kopftuchträgerinnen dazu gebracht zu protestieren. Auch das ist neu. Auf diesen Demonstrationen kamen Gewerkschaften, Frauenvereine, Alte, Junge, Professoren, Studenten und auch MHP – Nationalisten zusammen, die sonst nie etwas miteinander zu tun haben wollen. Das ist ebenfalls neu. Die Frauen haben die Demos vorbereitet, sie wissen, was für sie auf dem Spiel steht, und sind sehr aktiv. Die Parteien versuchen jetzt, diese Frauen für ihre Zwecke einzuspannen.«
In Istanbul, erklärt sie weiter, seien die Frauenvereine die Initiatoren der Großdemonstrationen. Aber leider verstünden sie sich als kemalistische Republikanerinnen und grenzten sich von anderen Frauen ab: »Sie betreiben Wahlkampf für eine bestimmte Richtung, statt die Rechte der Frauen voranzubringen. Sie hängen einer Vorstellung von der Rolle der Frau als Mutter und Ehefrau aus der Gründungszeit der Republik an. Diese Frauen wollen den Kemalismus retten, wie die
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