Bittersüße Heimat.
nicht erst in die Speisekarte, sondern geben dem Kellner ihre Bestellung direkt auf. »Habt ihr den gesehen«, poltert einer der drei los, »dieser Hund! Der wollte uns doch nur loswerden, denkt wohl, er habe es nichtnötig, mit uns zu essen.« Der Zweite stimmt ein: »Schließlich haben wir ihn hierher geschickt – genauso können wir ihn wieder zurückholen! Wir lassen uns doch nicht auf den Arm nehmen.« Der Dritte nickt, als der Erste einen Beschluss verkündet: »Wir gehen hier erst wieder weg, wenn er uns die Zusage gemacht hat, dass im Dorf die Wasserleitung gelegt wird. So lange bleiben wir.« Der Kellner bringt das Essen, ein Stück Lammfleisch mit Tomatensoße, Joghurt, Salat und Brot, das Gleiche, was wir auch bestellt haben. Auch unser Begleiter verabschiedet sich bald, die Stühle vor seinem Büro sind sicher längst wieder besetzt.
»Hier werden Wähler gekauft«
Am nächsten Tag treffe ich Serap, die Frauenbeauftragte der kemalistischen CHP , der Republikanischen Partei. 21
› Hinweis Von ihr möchte ich wissen, wie sie sich den Erfolg der AK P erklärt. Serap ist Ende zwanzig, hat vor ihrer jetzigen Tätigkeit für die »Fliegenden Besen« gearbeitet, eine Frauenorganisation, die die Gewalt gegen Frauen in der Türkei bekämpft, und ist auf die Regierungspartei nicht allzu gut zu sprechen.
»Sie tun viel für die Armen in den gecekondus «, erklärt sie mir. »Um an die Macht zu kommen und ihren Einfluss auszubauen, ersetzen sie die über Nacht illegal gebauten, primitiven Häuser durch staatlich subventionierte Hochhäuser. Die Grundstücke werden legalisiert, und die ehemaligen Bewohner können dann Wohnungsbesitzer werden – sofern sie in die AK P eintreten und ein Wahlversprechen ablegen. Ich habe mit Leuten dort gesprochen, die auf diese Weise, ohne einen kuru s zu zahlen, zu einer Wohnung gekommen sind. Danach wird die Religionsbehörde Diyanet losgeschickt, um im Viertel eine Moschee zu bauen. Die Bürgermeister und Gouverneure der AK P arbeiten alle so und nennen das ›Angliederung der Randgebiete‹. Das ist doch ein Etikettenschwindel, dieses großangelegte Projekt dient in Wahrheit ausschließlich der Islamisierung der Türkei. Sie richten Sozialstationen in den Armenvierteln ein, verteilen Zucker und verschenken Geld. Das ist keine rechtsstaatliche Kommunalpolitik, sondern Almosenvergabe, um die Menschen emotional und moralisch an sich zu binden. Hier werden zukünftige Wähler gekauft.«
Aber hat sich denn bisher irgendeine andere Partei der Probleme in den Slums angenommen, möchte ich wissen. Welche Ideen habe denn die CHP , um die sozialen Probleme zu beheben? Schließlich kenne ich das Problem aus eigener Anschauung.
Immer wenn ich in Ankara bin, wohne ich bei meiner Schwester in einem der vielen Neubaugebiete, wo die provisorisch errichteten Hütten abgerissen und als Reaktion auf die nicht abnehmende Landflucht hastig Neubauten hochgezogen wurden. Es handelt sich auch um die Einlösung eines Versprechens der AKP – Kommunalverwaltung, die Bewohner an Wasser und Strom anzuschließen und ihr Land als Bauland auszuweisen. Wenn der einst illegal besetzte Grund offiziell zum Wohngebiet erklärt wird, können die frischgebackenen Grundbesitzer ihn Bauträgern überlassen, von denen sie dafür meist in Immobilien bezahlt werden. Von einem Wohnblock mit zehn Stockwerken zu jeweils drei Wohnungen bekommt der Grundbesitzer bis zu zehn Wohnungen als Eigentum überschrieben. So wurden aus manchen der »gecekondus«, den über Nacht Gekommenen, die meist an der untersten Einkommensgrenze lebten, die »bir gecede zengin kondu«, die über Nacht reich Gewordenen. In die Häuser ziehen sie entweder selbst mit großen Familien ein oder sie vermieten sie.
Die Miete der Vierzimmerwohnung meiner Schwester beträgt etwa 200 Euro. Mein Neffe, der bei seiner Mutter wohnt, verdient als Autoverkäufer 250 Euro, meine Schwester als Verkäuferin noch weniger. In dieser Stadt reicht das nicht zum Leben. Zwei Freundinnen, so erzählte sie mir vor einigen Tagen, die wie sie selbst geschieden sind, hätten ihre Kinder zu Verwandten geben müssen und lebten als Haushaltshilfen bei ihren Geschwistern. Auch mein Neffe und meine Schwester müssen sparen. Im Winter ist die Heizung in der Wohnung von den in Ankara herrschenden Tiefsttemperaturen völlig überfordert. Es ist kalt in den Räumen, und die Fenster sind undicht. So verlassen die beiden morgens in aller Frühe das Haus, am Arbeitsplatz wird
Weitere Kostenlose Bücher