Bittersüße Heimat.
Pestiziden vergiftet haben, vom Dach gesprungen oder in Bergschluchten verschwunden sein.
In Batman leben fast ausschließlich Kurden. Die Stadt, die ihren Namen dem Fluss verdankt, an dem sie liegt, wurde erst 1955 gegründet, nachdem in der Nähe Erdölvorkommen entdeckt worden waren und man Wohnungen für die Raffinerie-Arbeiter brauchte. Inzwischen leben hier über 250.000 Menschen.
Als wir in einem Gemüseladen nach der Adresse von Ka-mer fragen, bringt uns der Händler stolz bis zur Tür der Einrichtung – hier, sagt er, würden sehr aktive Frauen arbeiten, die »unseren Mädchen« helfen. Es ist ein älteres dreistöckiges Haus zwischen den üblichen Hochhäusern. Im Erdgeschoss werden etwa zehn Kinder von zwei Kindergärtnerinnen betreut. Hinter dem Haus sieht man einen kleinen trostlosen Hof. Für eine Schaukel, eine Rutsche oder einen Sandkasten fehlt das Geld.
Renan ist eine freundliche Dame Mitte vierzig. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch unter dem Bild Atatürks. Wir müssen einige Minuten auf sie warten, denn sie führt gerade ein Gespräch mit einer Mutter und ihrer Tochter, beide von Kopf bis Fuß verschleiert. Als sie sich schließlich uns zuwendet, erfahren wir, dass sie seit fünf Jahren für Ka-mer in Batman arbeitet, seit einem halbem Jahr istsie die Verantwortliche. Vorher sei sie viele Jahre als Lehrerin im Schuldienst gewesen und habe ihre Schüler ganz im Geiste Atatürks erzogen. An die Probleme der Frauen hier müsse sie sich immer noch gewöhnen, die habe sie vorher so nicht gekannt. Die Frauen, die von Ehrenmord und Gewalt betroffen seien, kämen aus ganz anderen Verhältnissen als sie selbst, sie würden meist isoliert auf dem Land oder eingesperrt in den Hochhauswohnungen leben. Das sei eine fremde Welt, der sie sich nur vorsichtig nähern könne, um die Frauen nicht noch mehr zu verstören.
Das Mädchen zum Beispiel, das sie gerade beraten hat, hat sich auf eine Beziehung mit einem Jungen eingelassen, der ihr die Ehe versprach. Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, trennte er sich von ihr. Wenn du mit mir schläfst, so seine Begründung, dann machst du das auch mit anderen. Das sei eine richtige Falle für viele Mädchen, meint Renan. Nun hat die junge Frau Angst, vom eigenen Vater oder Bruder ermordet zu werden; aber auch der Junge ist seines Lebens nicht mehr sicher, denn beide kommen aus Familien, die in der Stadt für die Ausübung von Blutrache bekannt sind. Renan hat dem Mädchen deshalb geraten, den Freund von der Heirat zu überzeugen. Niemand weiß, ob er dazu bereit ist. Noch ist alles offen. Das Mädchen muss entscheiden, was es will, sagt Renan. Auch wenn es nur die Wahl zwischen Tod und Ehekäfig habe.
Die Frauen in Batman verbringen ihr ganzes Leben zu Hause, erzählt Renan. Sie werden streng bewacht, selbst den Einkauf erledigen die Männer. Daher sind auch die Probleme nicht sichtbar, nichts dringt aus dieser abgeschlossenen Welt nach draußen. Noch schlechter gehe es den Frauen auf dem Land. Oft schon mit zwölf Jahren verheiratet, werden sie zu den Sklavinnen ihrer Männer, von der Arbeitskraft der Frauen leben die Männer hier. Daran hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert. Und die Frauen sollen dies als gottgegeben hinnehmen. Niemand hilft ihnen, niemand interessiert sich für sie.
Im Dorf wie in der Stadt werden die jungen Mädchen als Blutgeld gegeben, wenn eine Familie Schulden bei einer anderen Familie hat und nicht bezahlen kann. Auch wenn es Streitigkeiten zwischen zwei Familienoberhäuptern gibt, verschenkt man ein Mädchen, um Blutrache zu vermeiden. Die beschenkte Familiedarf mit dem Mädchen machen, was sie will. Es ist vogelfrei, den Fremden schutzlos ausgeliefert. Oft nehmen sich solche Mädchen das Leben. Oder sie werden Zweit- oder Drittfrau eines Familienoberhaupts und als Arbeitskraft aufs Land geschickt. Das ist eine immer noch übliche Tradition sowohl der muslimischen Kurden als auch der Yesiden. Deren Kinder werden ausschließlich untereinander verheiratet – vermutlich auch, weil der türkische Staat sie als »Teufelsanbeter« verfolgt. Viele sind ausgewandert. Etwa 40.000 von ihnen leben inzwischen in Deutschland. Sie bilden dort eine archaische und in sich geschlossene Gemeinschaft, von der nur selten etwas an die Öffentlichkeit dringt – meist hört man von ihr im Zusammenhang von Zwangsverheiratung und Gewalt gegen Frauen. Doch solche Fälle finden sich nicht nur bei den Yeziden. In Urfa, der nächsten Station unserer Reise
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