Bittersüße Heimat.
durch Ostanatolien, erwartet uns Ayten, die eines Tages, als sie von der Schule nach Hause kam, erfuhr, dass »die Älteren« sie einem Mann versprochen hatten.
Ayten und der Traum von der Freiheit
Ayten, auch sie inzwischen eine Mitarbeiterin von Ka-mer, empfängt mich mit Tee und Gebäck. Sie wirkt müde. Sie müsse ihre »Fastenschulden« noch nachfasten und dürfe deshalb nichts essen und trinken. Da die Frauen während ihrer Menstruation nicht fasten dürfen, werden die im Ramadan versäumten Tage nachgeholt. Aber es mache ihr nichts aus, im Gegenteil, vielleicht helfe es ja, meint sie und zeigt lachend auf ihre breiten Hüften. Ayten ist 28 Jahre alt, verheiratet und hat eine zehnjährige Tochter.
Ich erzähle ihr von dem wunderschönen avlu , einem der alten Hofhäuser, das ich mir am Abend zuvor in Urfa habe anschauen können. Ihre Großmutter, so berichtet sie, sei mit 13 Jahren in eine Familie verheiratet worden, die ein solches Anwesen bewohnte. Die junge Braut war die Nichte der Schwiegermutter. »Wir sind ursprünglich Araber«, erklärt Ayten, »und damals war das so üblich. Noch heute werden zwei Drittel der Frauen in Urfa mit ihren Cousins ersten Grades verheiratet. Die Familien wollen unter sich bleiben, wie es die alten islamischen Stammesgesetze vorschrei ben, und auf diese Weise die alten Traditionen bewahren. So kam meine Großmutter in ein islamisches Anwesen, in ein arabisches Haus. Von den vielen Zimmern und Kammern in dem Haus hatte die Familie ihres Mannes zwei Zimmer behalten, die anderen wurden an andere Familien vermietet. Aber da es im Sommer in Urfa sehr heiß wird, manchmal bis zu 45 Grad, schliefen alle meistens draußen, auf den Dächern oder Emporen im Hof.«
Leben im Hof
Das Leben in diesen traditionellen Anwesen war streng reglementiert und nach Geschlechtern getrennt, berichtet Ayten von den Erzählungen der Großmutter. Wenn die Männer früh am Morgen das Anwesen verließen, frühstückten die Frauen gemeinsam, backten Brot oder wuschen die Wäsche. Am Brunnen im Hof wurde dann eine Feuerstelle eingerichtet, um in einem großen Kessel die Wäschestücke zu kochen. Nach getaner Arbeit wurde Tee getrunken, gestrickt, gehäkelt, gelacht und geplaudert.
Wenn ihre Männer heimkamen, mussten sich die Frauen zurückziehen, denn nach islamischer Vorschrift dürfen Männer nur ihre eigenen Frauen, Mütter und Töchter sehen, keine fremden Frauen. Nach dem Abendessen, das die Frauen für sie in der Mitte des Hofes angerichtet hatten, spielten die Männer Backgammon und rauchten ihre Wasserpfeifen. Oft kamen die Männer aus der Nachbarschaft dazu. Dann konnten die Frauen zu den Nachbarinnen gehen und dort im Hof sitzen.
Auch tagsüber verließen die Frauen fast nie das Anwesen. Der Avlu war groß genug und von hohen Mauern umgeben, sodass von außen niemand einen Blick hineinwerfen konnte. Daher mussten die Frauen keinen Tschador tragen, ein Kopftuch genügte, sie fühlten sich frei und sicher. Wenn allerdings fremde Männer ins Haus kamen, zu denen auch die Untermieter zählten, mussten sie sich verschleiern. Zum Einkaufen und zu anderen Besorgungen wurden die Söhne geschickt. Sobald diese in die Pubertät kamen, war auch das Zusammentreffen mit ihnen für Frauen, die nicht zur Familie gehörten, haram , verboten.
Der Ramadan war damals wie heute etwas ganz Besonderes. Die Frauen bereiteten aufwändiges Essen zu, zum Beispiel suluköfte , kleine gekochte Hackbällchen in einer Brühe. Oder die für Ufar typischen cigköfte , feiner Bulgur mit scharfem Paprikamark und Tartar, der mit Kopfsalat als Vorspeise gegessen wird. Oder lachmacun , die türkische Pizza mit Hackfleisch, die auf einem Blech über einer offenen Feuerstelle gebacken wird. Als Nachtisch war küfene , ein mit Frischkäse gebackener Teig mit Fäden aus Zuckersirup, beliebt.
Wenn die Männer nach dem Fastenbrechen ihre Sira – Abende mit Musik organisierten, sangen auch die Frauen – natürlich unter sich.
»Meine Großmutter sprach immer davon, dass die Frauen zu ihrer Zeit eine ›Schicksalsgemeinschaft‹ bildeten und große Solidarität unter ihnen herrschte – alles wurde geteilt, Neid kannten sie nicht«, erzählt Ayten. »Ich bin sehr traurig, dass wir das Haus meiner Großmutter nicht beziehen können. Ich liebe dieses alte Haus. Auf dem Dach blüht in jedem Jahr eine ganz besondere Sorte von Wildtulpen. Wir glauben, dass diese Tulpen noch in der osmanischen Zeit gepflanzt wurden. Aber das
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