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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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langen, zehn bis zwölf Meter hohen und bis zu fünf Meter dicken Stadtmauer aus Basalt umgeben ist. Das Hotel ist einfach, aber sauber und in einem der acht- bis zwölfstöckigen Betonkästen untergebracht, die man in vielen türkischen Städten antrifft und die in ihrer Gleichförmigkeit sehr an deutsche Plattenbauten erinnern. Die imposante, fast vollständig erhaltene Stadtmauer mit den vier Toren und 82 Türmen wurde im 4. Jahrhundert von den Byzantinern zur Verteidigung gegen die Sassaniden gebaut. Sassaniden, Turkmenen, Perser herrschten hier nacheinander, bevor die Stadt 1515 von den Osmanen erobert wurde. Im 17. Jahrhundert wurde Amida, wie die Christen den Ort nannten, oder Amed, wie die Kurden sagen, armenische Bischofsstadt mit einer mehrheitlich armenisch-christlichen Bevölkerung. Im Zuge der ethnischen Säuberungen durch die jungtürkische Regierung wurden in der Provinz Diyarbakir vom März 1915 bis zum Oktober 1916 unter der Leitung des Nationalisten und Arztes Dr. Mehmed Reschid 12.000 Armenier vertrieben oder umgebracht, darunter auch der letzte armenische Bischof von Diyarbakir. 57
› Hinweis Inzwischen ist die Stadt nahezu »ethnisch rein«.
    Die Altstadt liegt am Tigris. Das Gelände zwischen Fluss und Stadtmauer ist ein gecekondu , ein Slum der ärmlichsten Art: provisorische Hütten ohne fließendes Wasser, aber voller Menschen. Polizisten in kleinen Wachhäuschen beobachten misstrauisch die Szenerie, und es ist nicht zu empfehlen, auf der Stadtmauer oder gar dahinter spazieren zu gehen. Kaum haben wir nur einen Schritt durch einen der Durchlässe der Mauer getan, zischen uns verschleierte Frauen und junge Männer an und bedeuten uns, ja nicht weiterzugehen.
    Die Mahalles
    Die Altstadt innerhalb der Befestigung ist in verschiedene mahal les , Stadtviertel, aufgeteilt. Am Kopf liegt die Zitadelle mit der größten Moschee und der Ruine der armenischen Georgskirche. Dann werden die Straßen eng und immer verwinkelter, bis sie oft in Sackgassen enden. Frauen im Tschador huschen durch die Gänge oder hocken in den Türen. Die ein-, zwei- oder dreistöckigen Häuser sind zur Straße hin verschlossen, sie sollen vor Einblicken von außen geschützt sein. 58
› Hinweis Nur im ersten Stock gibt es Fenster mit Holzgittern. Bei manchen Häusern ist der Beton schrill mit bunten Farben übermalt, so weit ein Eimer Farbe eben reichte, ansonsten überwiegt ein schmutziges Grau.
    Fast überall in der Türkei sind die Altstädte inzwischen Wohnviertel für die arme Bevölkerung. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten am wenigsten geändert. Kein Haus wird renoviert, keines neu gebaut. Wer es sich leisten kann, zieht nach außerhalb, in einen der neuen Wohnblocks. Das ist in Ankara so wie in Diyarbakir.
    Außer dem Basar, der hier auf den beiden großen Straßen seinen Platz hat, gibt es als öffentliche Orte nur Moscheen und Teehäuser. Wie in allen orientalischen Städten fehlen öffentliche Plätze, weil es keine gemeinsame Öffentlichkeit gibt. Die Öffentlichkeit, das sind die Männer, ihre Teehäuser, ihre Geschäfte, ihre Moscheen. Für Frauen ist nichts Derartiges vorgesehen.

Das Kurdenproblem
    Wir sind hier fremd, das merken die Menschen sofort, und so fühlt man sich auch. Kaum sind wir um einige Ecken gebogen, heften sich kleine Jungen an unsere Fersen und rufen »money, money«. Andere Kinder hantieren mit Spielzeuggewehren, legen auf uns an und lachen. Manchmal fliegt wie zufällig ein kleiner Stein in unsere Richtung.
    Vor uns geht eine Frau im Tschador mit drei Kindern in Schuluniformen die Straße entlang, die Mutter schimpft und schlägt mit einem Schulbuch auf eins der Mädchen ein, das jammert, es würde auch nie wieder einen Wunsch äußern, wenn die Mutter doch bloß aufhören wolle zu schlagen. Die beiden Jungen gehen mit gesenkten Köpfen vorneweg. Ich schreite schneller aus, überhole sie und sehe der Frau streng in die Augen. Sie ist irritiert und fürchtet wohl, dass ich mich einmische. Ich bin tatsächlich kurz davor loszupoltern, Peter verdreht schon die Augen und scheint zu prüfen, wie er mich gegebenenfalls aus einer unangenehmen Situation befreien kann. Die Frau zieht ein schmutziges Papiertaschentuch aus einer Tasche, putzt die Nase des schluchzenden Mädchens und zischt ihm zu: »Sei jetzt endlich still!«
    Die Altstadt von Diyarbakir wurde ursprünglich von unterschiedlichen millets , Glaubensgemeinschaften, bewohnt. Es gab ein Armenier-Viertel, ein Viertel für die

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