Bittersüße Heimat.
Istanbul so ist – wer Türkisch spricht oder als Muslim identifiziert wird, bekommt keinen Alkohol. Da nützt der deutsche Pass gar nichts.
Kein Muslim muss Wein oder Whiskey trinken. Niemand verlangt es von ihm. Aber kann nicht jeder Gläubige selbst entscheiden, ob er der Empfehlung folgen will? Das Leben der Menschennach seinen Regeln bestimmen zu wollen, zeigt, dass der Islam kein Vertrauen in den Einzelnen setzt. Er will kontrollieren, er will bevormunden.
Die Speise des 10. Tags
Noch gibt es sie in Istanbul, die von Muslimen geführten Restaurants, in denen, zumindest noch im Herbst 2007, köstlicher türkischer Wein zu wunderbarem Essen serviert wird. Eines dieser Restaurants führt sogar einen Haci, einen Mekkapilger, im Namen; es ist das Haci Ali II , wo mein Onkel Enischte, meine Geschwister und ich damals zum letzten Mal gemeinsam tafelten. In diesem Familienrestaurant wird nach altosmanischer Art in einem tandir , einem Holz-Lehmofen, gekocht, und schon die Vorspeisen sind ein Traum. Der Kellner führt sie auf einem Tablett vor, und meine Augen möchten meist mehr, als mein Magen verträgt. Als Hauptgericht gibt es neben göbeksalatasi , Salatherzen mit frischen Kräuterblättern, alle möglichen Sorten Fleisch, die am Tisch gegrillt werden, darüber hinaus gibt es Haci Ali II Kebab oder geröstetes patlican , Auberginenpürre. Die tatlis , die Nachspeisen, sind umwerfend: gefüllte Feigen, süßer Kürbis oder Quitten mit kaymak , fester Sahne. Nach einem solchen Mahl habe ich noch nie bereut, den weiten Weg nach Kadiköy gemacht zu haben. Wenn ich mit einem der ständig hupenden und überfüllten Minibusse zum Fähranleger nach Haydarpasa zurückfahre, freue ich mich trotz meines vollen Bauchs schon wieder auf die nächste Völlerei.
In der Nähe des Fähranlegers befindet sich die Saray Pastane , eine etwa hundert Jahre alte Konditorei mit dem Charme einer Eisdiele aus den 1950er Jahren. Dort habe ich als Kind die köstlichste aschure gegessen, auch »Noahs Pudding« oder »Zehnfruchtschale« genannt, nachdem meine Geschwister und ich am Anleger in Kadiköy Karussell fahren durften. Aschure ist eine Süßspeise aus Weizenkörnern, Bohnen, Kichererbsen, Milch, Rosinen, Nüssen und getrockneten Feigen, Aprikosen, Granatapfelkernen, Rosenwasser und anderem mehr. Der Legende nach stammen die bis zu vierzig Zutaten aus den letzten Lagervorräten der Arche Noah. Sie ist auch eine religiöse Speise, die »Speise des 10. Tags« der heiligen drei Monate, die mit dem Fastenmonat Ramadan beschlos sen werden. Sie wird dann überall gekocht und mit Nachbarn und Armen geteilt. Heute gibt es sie das ganze Jahr lang, und man genießt sie am besten mit einem Glas eiskalter Zitronenlimonade.
Multikulti Baklava
Im Sommer 2007 empörte sich die türkische Presse über eine »Frechheit« der Griechen: Bei einer Umfrage unter den europäischen Ländern hatten die Griechen baklav a als »typisch griechisch« angeführt. Das aus Blätterteig mit gehackten Walnüssen, Pistazien und Mandeln hergestellte Gebäck ist in der Türkei allgegenwärtig. »Süß essen, süß sprechen« geht ohne Baklava nicht. Man bringt es als Gastgeschenk mit, bei der Eheanbahnung, beim Krankenbesuch, eigentlich gibt es immer Baklava. Mit einem Sirup aus Honig, Zucker oder Rosenwasser übergossen, schmeckt Baklava am besten, wenn man dazu einen bitteren Mokka trinkt. Die Armenier, die Türken, die Griechen beanspruchen alle, die Erfinder dieser Leckerei zu sein, und jedes Volk stellt seine eigene Variante davon her, um diese selbstverständlich als die »wahre« zu erklären.
Baklava wurde schon im 8. Jahrhundert von den Assyrern genossen. Das Rezept kam mit griechischen Kaufleuten in den Mittelmeerraum und mit den Osmanen bis nach Wien. Dort wurde daraus nach jahrhundertelanger Fortentwicklung der Apfelstrudel – ein wunderbares Beispiel für Assimilation und interkulturellen Austausch, so wie die italienischen »Profiteroles«, die Kugeln aus Brandteig mit Schokoladenfüllung, zu »Profitör« wurden, die ich am liebsten in der kleinen Konditorei »Inci« esse auf der Istiklal Caddesi, Istanbuls Hauptflaniermeile im alten Genueser Viertel in Beyoglu.
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Hinter hohen Mauern
»Woher kommst du?« , ist eine der klassischen Fragen , die jedem in der Türkei , nicht nur dem Fremden , gestellt wird . Zu welcher Fami lie , zu welchem Stamm , zu welchem Dor f man gehört , ist von ent scheidender Bedeutung . »Sie ist keine von uns« ist
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