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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Kriegsverbrechen dokumentierte. Solche unter großer öffentlicher Beteiligung geführten Debatten verliefen äußerst kontrovers, für viele aus der älteren Generation, die als Soldaten oder Offiziere dem »Dritten Reich« gedient hatten, waren sie vermutlich schmerzhaft; aber sie haben durch die kollektive Befassung mit der deutschen Schuld eine Art Reifeprozess ermöglicht und damit entscheidend dazu beigetragen, den demokratisch-zivilen Charakter dieser Republik zu festigen. Sie waren »Arbeit«, mit der die verdrängte Vergangenheit ins Bewusstsein gehoben wurde. »Verliere ich meine Vergangenheit«, schreibt der ungarische Schriftsteller György Konrád, »verliere ich mich selbst. Dann sehe ich nicht, was mich an das Leben bindet. Erinnerungen, das sind die Beine von Tausendfüßlern. Jede Erinnerung bindet mich an das Leben. Ob Zukunft Erinnerung braucht? Wer weiß das schon? Wir brauchen sie. Sie ist nötig wie für die Füße das Gehen. Ansonsten verkümmern sie.« 70
› Hinweis
    In der Türkei fehlt ein solcher öffentlicher Diskurs – nicht nur über die Verbrechen, die an den Armeniern begangen wurden. Es fehlt grundsätzlich an einer Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit dem eigenen Gewordensein. Der von Atatürk überlieferte Ruf »ille’lebet, ileri. Hic bir zaman geri – Immer vorwärts, niemals zurück« folgt der Logik eines Militärs, der nie zurückschaut und für den nur der Sieg zählt. So konnte man Schlachten gewinnen, aber nicht die Zukunft eines Landes.
    Bei meinen Recherchen bin ich häufig auf ein Verhalten gestoßen, das ich, in Anlehnung an die Mitscherlichs, »die Unfähigkeit, sich zu erinnern« nennen möchte. Begründet ist diese nicht nur im kollektiven Unwissen, sondern auch in einem generellen Abwehrreflex. Geschichte erscheint als unbedeutend, wenn sie nicht die eigene Größe dokumentiert. Man versucht nicht, aus ihr zu lernen, sondern sie – je nachdem, auf welcher Seite man steht – als Ausweis der nationalen Größe oder als Beleg zu deuten, dass alles gottgewollt ist. Beiden, den Nationalisten wie den Religiösen, ist der Zweifel, die Neugier auf alles, was sich nicht in das Korsett des »Türkentums« zwängen lässt, fremd. Der Zweifel, die Neugier, die Frage aber stehen am Anfang jeder Erkenntnis – individuellwie kollektiv –, sie sind die bedeutendsten Werkzeuge der europäischen Aufklärung.
    In der türkischen Gesellschaft herrscht ein großes Misstrauen gegen das offene Wort und die kritische Nachfrage. Schnell wird unterstellt, Kritik gelte nicht dem besonderen Gegenstand, dem spezifischen Ereignis, der einzelnen Person, stelle vielmehr die Nation, die Türken oder den Glauben unter Generalverdacht.
    Lähmungserscheinungen
    Eine Gesellschaft, die es nötig hat, sich gegen das freie Wort mit staatlicher Macht abzusichern, kann mit sich selbst nicht im Reinen sein. Sie bleibt lernunfähig, infantil, in einer Art Bewusstseinsgefängnis stecken – unfähig, Probleme mit den ethnischen Minderheiten und den religiösen Verschiedenheiten anzupacken und den Anforderungen der Zukunft zu begegnen. Was Alexander und Margarete Mitscherlich mit Blick auf die Verdrängung der während des »Dritten Reiches« begangenen Verbrechen schrieben, gilt auch für die türkische Gesellschaft von heute: »Die Getöteten können wir nicht zum Leben erwecken. Solange es uns aber nicht gelingen mag, uns den Lebenden gegenüber aus den Vorurteilsstereotypen unserer Geschichte zu lösen, … werden wir an unserem psychosozialen Immobilismus wie an eine Krankheit mit schweren Lähmungserscheinungen gekettet bleiben.« 71
› Hinweis
    Für mich liegt in diesem »psychosozialen Immobilismus« eine der Wurzeln für die vielen Widersprüche, denen ich in meiner türkischen Heimat begegne. Ein Land voller geschichtsträchtiger antiker griechischer wie römischer Spuren, aber unfähig, seine großartigen historischen Ressourcen als Kapital begreifen und nutzen zu können; Landschaften von einer so überwältigenden Schönheit und majestätischen Erhabenheit, dass sich ihnen kaum ein Fremder entziehen kann, während jene, denen diese Schätze gehören, ihnen eher mit Gleichgültigkeit, wenn nicht Geringschätzung gegenüberzustehen scheinen. Da gibt es die Erben Atatürks, die aus der Türkei ein säkulares Land nach westlichem Vorbild formen wollten, daneben breitet sich längst eine neue Macht aus, das Amt für Religion, eine milliardenschwere »Missionsbehörde«, die das Land wie

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