Bittersüße Nacht - McLeod, S: Bittersüße Nacht - The Bitter Seed of Magic
scharf im Auge behaltend, rutschte ich hektisch zurück und zwängte mich in die Ecke neben dem Nachtkästchen.
Der Rabe ließ erneut ein lautes Krächzen ertönen und explodierte. Ein Wirbelsturm aus Federn tobte, die sich jedoch auflösten, bevor sie den Boden erreichten.
Sekunden später stand anstelle des Raben ein nackter Mann vor mir.
Der Mann riss den Mund auf und stieß ein lautes Krächzen aus, dann knickten ihm die Beine weg, und er landete auf allen vieren. Stöhnend ließ er den Kopf hängen. Sein langes goldblondes Haar umhüllte wie ein seidiger Wasserfall sein Gesicht.
»Meine Göttin«, ächzte er heiser, »das hat vielleicht wehgetan.« Er rollte sich zusammen und stöhnte.
Aha. Na, die Morrígan war das jedenfalls nicht.
Und allzu bedrohlich wirkte er jetzt auch nicht mehr. Sein Stöhnen klang übertrieben, beinahe so, als wolle er Mitleid erregen. Ich ploppte wie ein Korken aus meiner Ecke und rappelte mich auf die Beine. Den nackten Romeo erst mal links liegen lassend, rannte ich zum Schrank und riss ihn auf.
Wie erwartet, hing dort fein säuberlich neben meiner Lederjacke Maliks langer schwarzer Ledermantel. Bloß gut, dass Malik so ordentlich war. Den stöhnenden Rabenknaben wachsam im Auge behaltend, riss ich Jacke und Mantel von den Bügeln und sprang zu Malik. Gesicht und Torso deckte ich mit seinem Ledermantel zu, und die Beine wickelte ich in meine Lederjacke. Es war zwar keine perfekte Lösung, aber ich war mir sicher, dass Malik alt und daher robust genug war, um das Tageslicht, das um diese Jahreszeit ohnehin noch nicht so stark war, eine Weile aushalten zu können.
Dann wandte ich mich um und schaute mir meinen neuesten Besucher genauer an.
Der Ausdruck »Eye Candy« kam mir in den Sinn: breite Schwimmerschultern, ein runder, fester Po, lange, sehnige Beine, honigbraune Haut, mit feinen goldenen Härchen überzogen, die in der milchigen Morgensonne glitzerten. Eine Tätowierung wand sich wie eine Ranke von seinem linken Fußgelenk über die Wade bis hinauf zum Oberschenkel, ein kompliziertes Muster aus stilisierten Federn. Ein solches Muster hatte ich meines Wissens noch nie gesehen. Es war mit goldener Tinte eintätowiert worden und verschmolz beinahe mit dem Farbton seiner Haut. Auf den verschlungenen goldenen Linien funkelten winzige Diamanten, anscheinend fest mit seiner Haut verbunden. Ich schaute genauer hin: Das Tattoo und die Diamanten erfüllten den Raum mit einem goldenen Glanz, der stärker war als die Sommersonne.
Ich hätte meine letzte Lakritzspirale darauf verwettet, dass das der Rabe war, der mich während der letzten Tage sozusagen begleitet hatte. Die Frage war nur, handelte es sich hier um einen Botschafter der Morrígan, oder hatte es etwas mit dem toten Rabenmädchen zu tun? Oder mit beidem?
Aber wie gesagt, einen besonders kompetenten Eindruck machte er nicht auf mich. Würde die Morrígan wirklich so einen schicken?
Natürlich konnte sein Anwesenheit auch einen anderen Grund haben. Möglicherweise hatte ich mir einen weiteren hoffnungsvollen Verehrer eingehandelt. Das machte zusammen mit Sylvia, dem Kirschbaum, schon zwei. Verfluchter Fruchtbarkeitsfluch.
»Falls du glaubst, bei mir Eindruck schinden zu können, indem du im Adamskostüm in meinem Schlafzimmer auftauchst«, sagte ich laut genug, um sein Stöhnen zu übertönen, und stupste ihn mit meinem Zeh an der Schulter, »dann irrst du dich, Freundchen. Das haben die Najaden auch schon probiert – ohne Erfolg, wie ich hinzufügen möchte. Ach ja, und falls du glaubst, dass das ’ne Abkürzung in mein Bett sein könnte, dann leidest du unter Wahnvorstellungen. Bei mir braucht’s schon weit mehr als ein hübsches Gesicht, um mich ins Bett zu kriegen.«
Er hörte auf zu stöhnen, hob den Kopf und spähte mich über seinen angewinkelten Arm hinweg an. Er schien in meinem Alter zu sein, etwa Mitte zwanzig. Sein Gesicht war ebenso schön wie der Rest seines Körpers: hohe, schräge Wangenknochen, spitzes Kinn, schmale edle Nase und große indigoblaue Augen mit geschlitzten Katzenpupillen, die mich – eher rötlich als schwarz – anblinzelten.
Ich starrte ihn fassungslos an. Er war Sidhe .
»Ihr tut mir unrecht, holde Dame.« Er stützte das Kinn auf seinen Arm und musterte mich interessiert. »Immerhin habe ich Euch soeben das Leben gerettet. Aber ich will nicht kleinlich sein: Ich bin bereit, Euch zu vergeben, vorausgesetzt« – er grinste – »ihr offeriert mir ein Schlückchen von diesem
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