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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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dahintersteckt?«, fragte ich.
    »Das hat Jacks mir gesagt«, erwiderte Leo.
    »Was hat Jacks dir noch gesagt?«
    »Dass Mickey und Yuri uns gezwungen haben, zur Hochzeit zu gehen, damit sie Nana umbringen konnten. Yuri hat die Stromversorgung unter sich, deshalb haben die Apparate aufgehört zu arbeiten.«
    »Leo! Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Warum sollten sie Nana denn umbringen wollen?«
    »Damit ich voll damit beschäftigt bin, euer Vormund zu sein, und deshalb nicht verlange, was rechtmäßig mir gehört.«
    Ich barg den Kopf in den Händen. Mein armer Bruder! »Ach, Leo, warum willst du denn unbedingt Familienoberhaupt werden? Das ist eine furchtbare Aufgabe. Sieh doch, wie es Daddy damit ergangen ist.«
    Leo überlegte. »Weil es die einzige Möglichkeit ist, dich und Natty vor unserer Familie zu schützen.«
    »Aber Natty und ich sind gut zurechtgekommen, bis …«
    »Nein, seid ihr nicht. Du musstest letzten Herbst wegen unserer Familie ins Gefängnis. Als du zurückkamst, sahst du aus wie eine kleine kaputte Puppe, Annie. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss. Daddy hat mir vor seinem Tod gesagt, meine Aufgabe würde darin bestehen, meine Schwestern zu beschützen.«
    Blöder Daddy! Mir hatte er dasselbe gesagt. »Aber Leo, am besten hättest du uns geschützt, wenn du dich ganz herausgehalten hättest. Jetzt haben sie’s auf dich abgesehen. Und wenn sie dich finden, bringen sie dich wahrscheinlich um.«
    Langsam schüttelte Leo den Kopf. »Ich weiß, dass du mich für dumm hältst, Annie. Dass du meinst, ich wäre wie Viktor, das Maultier.«
    »Viktor, das Maultier?« Wer zum Teufel war das denn? Doch dann fiel es mir ein.
    »Du weißt nicht, dass ich damals vor der Tür stand, aber ich habe gelauscht. Nana hat gesagt, ich wäre wie Viktor. Er war dumm und gut genug zum Ausladen von Lkws. Hast du auch gesagt. Dummer Leo. Genau wie Viktor, das Maultier.«
    »Nein, Leo, das hast du falsch verstanden …« Doch das hatte er nicht. Er hatte es genau richtig verstanden.
    »Alle unterschätzen mich, Annie. Nur weil ich nicht die richtigen Wörter finde und manchmal weine, bin ich noch lange kein Idiot. Nur weil ich Anfälle bekomme, bin ich noch lange nicht schwach und kann meine Schwestern nicht beschützen. Nur weil ich die Verletzungen hatte, heißt das nicht, dass ich wertlos bin und nicht wieder besser werde.«
    Am liebsten hätte ich geschrien, konnte mir aber nicht leisten, Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. »Hat dir das auch Jacks erklärt?«
    »Nein! Du hast nicht zugehört, Annie. Das kommt von mir. Jacks hat mir vielleicht ein paar Sachen erklärt, wie die Familie funktioniert. Aber das mit Onkel Yuri habe ich selbst gemacht, Annie. Und zwar für uns alle.«
    Leo hatte Wahnvorstellungen und lag total daneben. Er war von Jacks manipuliert worden, so viel war mir jetzt klar. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass er jetzt wegen versuchten Mordes gesucht wurde. Wenn die Familie ihn in die Finger bekam, konnte er getötet werden. Wenn die Polizei ihn schnappte, würde er ins Gefängnis wandern, was für jemanden wie meinen Bruder noch schlimmer sein konnte als der Tod.
    Ich musste ihn außer Landes schaffen. Doch zuerst musste ich ihn aus dieser Schule herausbekommen.
    Ich ließ mir von Leo versprechen, dass er sich tagsüber immer wieder in andere Bänke setzte, um die Gefahr zu verringern, dass er entdeckt wurde. Ich gab ihm meinen Schulschal, den er sich um den Hals schlingen sollte, damit man ihn, falls er gesehen wurde, für einen Schüler hielt.
    Ich verließ die Kapelle und ging ins Büro der Kirchensekretärin. Es war noch verwaist, da man auch so viele Monate später keine neue Sekretärin gefunden hatte. Ich griff zum Hörer. Es war neun Uhr abends in Kyoto. Ich nahm an, es sei noch nicht zu spät für einen Anruf, doch selbst wenn es so war, konnte ich nichts daran ändern.
    Yuji meldete sich auf Japanisch.
    »Yuji, hier ist Anya Balanchine. Ich brauche deine Hilfe.« Ich erklärte ihm die Lage. »Ich erwarte nicht von dir, auf Leo aufzupassen, aber hier kann er nicht bleiben. Er würde umgebracht, und zwar zu Recht. Aber ich kann meinen Bruder doch auch nicht sterben lassen, oder?«
    »Natürlich nicht«, erwiderte Yuji.
    »Ich hatte gehofft, dass du vielleicht in der Lage wärst, Leo heimlich nach Japan bringen zu lassen? Ich weiß natürlich, dass es dich in eine unangenehme Situation bringen würde, wenn er bei dir zu Hause wohnen würde, deshalb hatte ich

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