Bitterzart
Sache mit uns ausgeplaudert.«
»Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, sagte Win.
»Und er hat mich quasi gezwungen, mit ihm zu schlafen.« Vielleicht hatte ich im Leben schon zu viel Schlimmes gesehen, aber Wins Mitleid mit Gable ärgerte mich.
»Er ist mies, Annie, aber ich weiß echt nicht, wie er den Stuhl rollen und dabei das Tablett tragen soll«, sagte Scarlet. Kaum hatte sie es ausgesprochen, begann Gable, mit dem wackelnden Tablett auf dem Schoß die Schlange zu verlassen. Das Essen rutschte runter – zufälligerweise eben die Lasagne, die ich ihm vor Monaten über den Kopf gekippt hatte –, die Soße tropfte auf seine Hose und von dort auf seine Schuhe. In einem musste eine Fußprothese stecken. Gable stieß ein Schimpfwort aus, und ich hörte tatsächlich mehrere Schüler im Speisesaal lachen. Der Junge – und ja, in dem Moment war er für mich nichts anderes – wirkte völlig verloren und ratlos.
»Es reicht«, sagte ich. Es kam mir allmählich absolut unmoralisch vor, Gable mitten im Speisesaal stehen zu lassen. Ich wollte nicht, dass sich meine Eltern, wo auch immer sie sich befanden, für mich schämten. »Ich gehe hin.«
»Wir kommen mit«, sagten Win und Scarlet.
Ich stand auf. »Arsley, komm rüber zu uns!«, rief ich.
Im ersten Moment sah Gable aus, als würde er etwas Unverschämtes antworten, dann schüttelte er den Kopf und grinste. »Versprich mir, dass du mich nicht vergiftest, Balanchine!«, sagte er, und er klang so wie früher.
Einige Mitschüler lachten über seinen Scherz.
»Ich mache den Vorkoster für dich«, rief Scarlet.
»Darauf nagel ich dich fest«, gab Gable zurück.
Scarlet ging zu ihm und fuhr ihn an unseren Tisch. Win stellte sich in die Schlange und besorgte neues Essen für Gable. Ich ging zur Toilette und steckte alle Vierteldollarstücke, die Scarlet und ich hatten auftreiben können, in den Automaten, damit Gable genug Feuchttücher bekam, um sich zu säubern.
Als wir alle wieder saßen, bemerkte Gable: »Ich würde überall anders lieber sitzen als hier. Bei der Mafiatochter, dem Staatsanwaltssohn und Lady Macbeth.«
Ich hielt den Mund.
»Wir freuen uns auch total, dass du hier sitzt«, sagte Win.
Mit Mühe versuchte Gable, seine Schuhe und Hose mit den Feuchttüchern zu säubern. Dabei würde ich ihm nicht helfen – irgendwo war Schluss für mich. Zum Glück bot ihm Scarlet ihre Hilfe an.
»Nein«, sagte Gable. »Geht schon.«
»Mache ich gerne«, sagte sie, beugte sich vor und wischte über seine Schuhe.
»Das ist …«, hörte ich ihn flüstern, »peinlich, so zu sein.«
»Nein«, gab sie zurück. »Das ist das Leben.«
Er zuckte zusammen, als Scarlet einen Fleck von seinem Hosenbein tupfte. »Hast du so große Schmerzen?«, fragte sie.
»Bisschen«, erwiderte er. »Aber ist auszuhalten.«
»Fertig«, sagte sie fröhlich.
Gable nahm ihre Hand, und ich merkte, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. »Danke«, sagte er. »Ehrlich.«
Scarlet entzog ihm ihre Hand. »Gern geschehen.«
»He, Arsley«, sagte ich. »Du weißt doch, dass ich Scarlet niemals erlauben würde, mit dir zu gehen, oder?«
»Du bist nicht ihre Mutter«, gab Gable zurück. »Und so schlimm war ich auch nicht zu dir.«
»Hm, du warst der schlimmste Freund aller Zeiten, aber wir sollten das nicht vertiefen.« Ich versuchte, locker zu klingen. »Wir lassen dich nur hier sitzen, weil du ein Krüppel bist und uns leidtust. Wenn das aber dazu führen sollte, dass du dich an Scarlet heranmachst, kannst du jetzt sofort wieder mitten zurück in den Speisesaal rollen.«
»Du bist ein Arschloch, Anya«, sagte er.
»Und du bist verhaltensgestört, Gable«, erwiderte ich.
»Du musst es ja wissen«, sagte er.
Ich verdrehte die Augen.
»Ehrlich jetzt, Anya, ich habe mich nur bei Scarlet bedankt«, sagte Gable.
»He«, sagte Win. »Ich hab eine Idee. Von jetzt an ist dies der Mittagstisch, wo jeder seine Hände bei sich lässt. Einverstanden?«
Ich sah Scarlet erst wieder im Bus nach Hause, hatte mir aber den ganzen Nachmittag Gedanken über sie gemacht. Das Problem lag darin, dass Scarlet sich von Pechvögeln und Hilfsbedürftigen angezogen fühlte. (Wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie mir und meiner Familie so eine gute Freundin war.) Menschen wie Scarlet werden gerne mal ausgenutzt, besonders von Leuten wie Gable Arsley.
»Hör mal, du kannst dich nicht mit Gable Arsley einlassen«, sagte ich, als wir durch den Park zur East Side fuhren.
Natty war bei uns. Sie
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