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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Sonnenschirmen gesessen, es gab auch wenig Grund dafür; er hatte noch nie echten Bohnenkaffee getrunken und kam sich mordsmäßig erwachsen vor, und im Grunde und eigentlich fehlte doch nur der Vater, um sie zu einer kompletten Familie zu machen. Ach was, Vater. Bald war er selbst ein ganzer Mann, schon jetzt hatte er richtige Muskeln an den Oberarmen, und den etwas schmächtigen Brustkorb würden bald kräuselige blonde Haare schmücken. Er warf sich in die Brust, spannte die Wangenmuskeln an und zerrte nicht an der Fliege, die Mutter Lehmann viel zu eng gebunden hatte. Sie waren als Familie hier und kochten Kaffee. Es war Sonntag. Für eine ganze lange Stunde war das Leben vielversprechend und restlos schön. Ein Drehleiermann spielte, und Mutter Lehmann bekam einen ganz weichen Blick und schunkelte auf ihrer Holzbank im Takt.
    Vor der Brücke, die unter der Badstraße durchführte, war die Panke, ein schmales, wasserarmes Flüsschen, an einem Wehr etwas aufgestaut, und der dadurch entstandene kleine Kanal war ein zusätzlicher Anziehungspunkt für die Ausflügler und ihre Kinder. Die dreißig Meter Wasserfläche lockten die Mücken an und rochen nicht sehr gut. »Kleen Venedich«, spotteten die Sonntagsbesucher gutmütig; »die Rattenwanne« hieß es abschätzig bei den Einheimischen – doch für die Weddinger Kinder und für Sándor hatte der Kanal eine sensationelle, unwiderstehliche Anziehungskraft. Nicht zuletzt deshalb, weil der neue Wirt des Gartenlokals ein echtes Ruderboot ins Wasser gelegt hatte, das meist den vorbeikommenden Musikanten als Auftrittsort diente oder bei Einbruch der Dunkelheit Treffpunkt für ein lauschiges Plauderstündchen unter Verliebten war. Jetzt, am Nachmittag, im Sommer, tobten die Kinder als Piraten und Militär um das Boot, und Sándor kannte einige der Rotzlöffel, vergaß für ein paar Augenblicke sein neues Familiengefühl und die Noblesse von Großvaters Fliege und tobte mit.
    Â»Frühschoppen« war ein vernebelnd fröhliches, fast sportliches Wort für eine Tätigkeit, die nicht nur im Wedding am Sonntag mehr als verbreitet war und im Grunde hartes Trinken schon bei Tagesbeginn meinte. Ausgelaugt von der körperlichen Arbeit der sechs Werktage, verkatert vom Samstagabendbesäufnis und ratlos, was mit dem einzigen freien Tag der Woche nun anzufangen war, strömten die Männer schon morgens um neun in die Bierschwemmen, palaverten an Stehtischen über die Politik, schwenkten grölend die Bierseidel und genossen ihre temporäre Freiheit. Am Nach mittag lagen Betrunkene auf den Straßen, krakeelten in den Biergärten und belästigten die Ausflügler auch hier am Pankeufer. Just als Sándor als Kavallerieoffizier über die Hafenanlage auf das heftig verteidigte Piratenschiff zugaloppierte, kippte einer dieser schwankenden Frühschoppler seiner Mutter einen halben Maßkrug Bier in den Schoß. Die Lehmannsche schrie wütend auf, und Sándor riss den Kopf herum, um nach seiner Mutter zu schauen. So übersah er das schwere Paddel des Ruderboots, das ihn an Hals und Kopf traf, und der zweite Schrei von Mutter Lehmann galt ihrem Sohn, der der Länge nach in die Panke gefallen und unter das Ruderboot gerutscht war.
    Ein Geschmack von Brackwasser und trübes, grünliches Licht umgaben Sándor, und er hatte das Gefühl, zu sinken, hochgerissen zu werden, angeschrien – und erneut zu sinken.
    Â»Lehmann!«
    Wieder Wasser; das Licht wurde heller. Es stammte von einer Blendlaterne, die ihm direkt ins Gesicht gehalten wurde, und das Wasser lief an seinem Gesicht herunter in seinen Kragen; kaltes Wasser aus einem Bierkrug.
    Er schlug die Augen auf.
    Belfort und zwei Schutzpolizisten hatten ihn aufrecht an die Außen wand von Jenitzkys Café gesetzt; er hatte Kopfschmerzen und einen geschwollenen Wangenknochen, aber die Wirklichkeit kam langsam zurück. Er sortierte fieberhaft, was geschehen war, griff erschrocken in sein Gesicht – verdammt, der Schnurbart! Belfort durfte das flammendrote Ding nicht sehen, aber der Bart war weg, wahrscheinlich beim Dampfhammerschlag dieses Hundertfünfzig-Kilo-Mannes abgerissen und im Handgemenge da drin abhandengekommen. Gut so! Oder – ein Schreck durchfuhr ihn – hatte Jenitzky das Ding eingesammelt, um die doppelte Identität bei Gelegenheit gegen ihn zu verwenden?
    Jenitzky, der alte

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