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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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reiche Herrschaften; die Ränke und Intrigen des deutschen Herrschergeschlechts, in dem sich Sándors Mutter auskannte, als hätte sie in früheren Jahren wahrhaftig selbst für Kaiser Wilhelm das Tafelsilber geputzt.
    Als Sándor zwölf wurde, hatte seine Mutter die Fünfzig bereits überschritten, die Arbeit fiel ihr schon lange nicht mehr leicht, und ihr Leben war nicht besser geworden in den letzten Jahren, sondern schwerer. Die Zeiten selbst waren schwerer geworden; der idyllische Wedding mit seinen Ziegenställen in den Hinter höfen, mit den Biergärten am Gesundbrunnen und grünen Bach ufern entlang der Panke war dicht an dicht mit großen Mietshäusern bebaut worden, in denen die Arbeiter der großen Fabriken auf engstem Raum mit vielköpfigen Familien wohnten. Acht, zwölf oder noch mehr Familien teilten sich eine Außentoilette, die zwischen den Stockwerken im Treppenhaus lag, eiskalt im Winter, fliegenumschwirrt im Hochsommer, immer verdreckt, ein Hort für Krankheiten, Übelkeit und Gestank. Überhaupt durfte man nicht zimperlich sein, was die Ausdünstungen der zigtausend Menschen anging, die hier in diesem Arbeiterviertel zusammengepfercht waren. Der Geruch von Schweiß, Kot und Erbrochenem sickerte regelrecht durch die Wände; es roch nach Schimmel, nach Keller, nach verfaulten Essensresten. Über dem Viertel lag der erdrückende Qualm schlechter Kohle, und die Menschen hatten kaum Luft zum Atmen – weil ihnen auch die harte Fabrikarbeit in zermürbenden Schichten für schlechten Lohn schwer auf die Lunge und die Glieder drückte.
    Mutter Lehmann hasste ihr enges Souterrain-Kellerloch; er dagegen war im Grunde froh, seine klamme Schlafnische nicht noch mit sieben, acht Geschwistern teilen zu müssen. Aber auch die Lehmannsche selbst hatte sich bei aller Not im Grunde mit ihrem Schicksal abgefunden oder resigniert, und Versuche, alles zum Besseren zu wenden, machte sie selten. Wie auch? Ein- oder zweimal war sie oben am Gesundbrunnen in einem der etwas besseren Lokale bei einem sogenannten Witwenball gewesen – einer erniedrigenden, trostlosen Veranstaltung, bei der die männersuchenden Damen aller Altersklassen eine stolze Reichsmark Eintritt zahlen mussten, nur um in einer deprimierenden Überzahl bei alberner Musik in einer Stuhlreihe zu sitzen und auf Männer warten zu müssen. Ab und zu trudelte einer der Kerle herein, hatte sich draußen Mut angetrunken oder wollte die teuren Preise am Tresen sparen; plumpe, erschöpfte Proleten, denen die erste Frau gestorben war oder die noch nie eine gehabt hatten. Nach großer Liebe sah das alles nicht aus, nach solider Familiengründung auch nicht. Lustige Musik schepperte aus dem Grammofon, dümmliche Stimmungsliedchen – »wenn aller Schnee geschmolzen ist, so bleibt uns doch die Asche« –, und wer Glück hatte, bekam bei der Herrenwahl einen ab, der einen unbeholfen und mit feuchten Fingern über die Tanzfläche schwenkte. »Schiebertänze verboten« stand auf einem Schild an der Tür, aber Anzüglichkeit und Verführung kamen hier ohnehin nicht zustande, und die Lehmannsche beschloss, nicht mehr hinzugehen zu dieser Viehschau.
    Dass sie arm waren, dass in anderen Stadtteilen dieser endlos großen Stadt andere Zustände herrschten, sogar Wohlstand, Gutbürgerlichkeit – das war Sándor lange nicht bewusst gewesen. Als Kind nahm er wahr, was er aus eigenem Erleben kennenlernte – ein Radius von ein paar hundert Metern um die Badstraße he rum, Höfe, eine Schmiede, ein paar Lagerhäuser, Läden, Lauben am Pankeufer. Das war die Welt, sie war so, wie sie war. Seine Lebensziele waren überschaubar; erwachsen werden – das allein versprach schon alle vorstellbaren Möglichkeiten.
    Trotzdem war der Ausflug in das Gartenlokal ein Blick in eine fremde, begehrenswerte Welt. Für einen Groschen eine große Tüte duftiger Kuchenränder kaufen; auf einer riesigen Kochstelle mit kostenlos bereitgestelltem heißem Wasser den eigenen, mitgebrachten Kaffee aufbrühen – Mutters Sonntagsmischung, zwei Drittel Gerstenkaffe, ein Drittel Malzkaffee und eine Prise richtiger, echter Bohnenkaffee – und dann an den langen, knallgrün gestrichenen Bierbänken sitzen unter rot-weiß gestreiften Sonnenschirmen mit verschnörkelten Vollants … das war großartig. Sándor hatte noch nie unter

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