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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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mitunter alles rückwärts zu fließen oder mindestens zu einem eisigen, ineinander verkeilten Stillstand zu kommen schien, der Wärme immer nur für Momente zuließ.

PROBLEME
    Sándor glaubte nicht an Gedankenübertragung, an Telepathie, nicht mal an Intuition. Er wusste etwas, oder er wusste es nicht. Beim Musikmachen war das anders, da konnte er das Hirn ausschalten, sich treiben lassen, und wie im Traum spülte es Erinnerungen und Assoziationen an die Oberfläche – aber im Wachen, bei der Ermittlungsarbeit, zählte das nicht. Da trug er die Fakten zusammen oder die Schnipsel von Tatsachen, kleinste Hinweise darauf, und dieses Rohmaterial verdichtete sich zu einer Vermutung, einer Annahme. Mehr Hokuspokus war nicht dabei. Gennat wurde immer ein »siebter Sinn« unterstellt; auch ihm selbst sprachen die Kollegen einen »guten Riecher« zu – aber das war alles Unsinn. Im Gegenteil, er verließ sich eben nicht auf seine Nase, sondern siebte die kleinen Bruchstücke wieder und wieder, hielt den Kopf offen, ohne sich festzulegen, und baute fest auf die einzige unverbrüchliche Tatsache, die für ihn feststand: dass der Mensch – jeder einzelne – ein unberechenbares Arschloch sei, dem alles zuzutrauen und bei dem mit allem zu rechnen war. Deshalb behielt er bei einem Fall bis zuletzt alle Optionen in der Hand und sortierte einen Verdächtigen nie voreilig aus. Oder höchstens, wenn die Sache insgesamt eine nachvollziehbare Bagatelle war; ein Bankraub aus Armut vielleicht; und er den Mistkerl von Täter so an den Eiern hatte, dass er jedes Interesse an der weiteren Verfolgung verlor und die ganze Sache gegen eine kleine Gefälligkeit oder Unkostenbeteiligung auf später verschob.
    Nein, Sándor Lehmann war nicht korrupt im typischen Sinne des Wortes. Er machte seinen Job, sehr gut sogar. Er brachte weit mehr Kerle hinter Gitter als jeder seiner Kollegen. Aber er war ein Sportsfreund, liebte das Armdrücken, das Oberhandbehalten. Wenn er gewonnen hatte, wenn er Recht gehabt hatte, musste er nicht rachsüchtig jeden Einzelnen unnachgiebig vor Gericht zerren. Vor allem nicht, wenn dieser Einzelne gut vernetzt war, Beziehungen hatte, eine Rolle spielte in diesem krabbelnden, kämpfenden kriminellen Gewusel der Reichshauptstadt. Was nützte es, einen Hehler oder Bandenboss aus dem Verkehr zu ziehen? Nach einem Tag war der Mann ersetzt durch einen anderen, auf den man keinen Zugriff hatte. Also ließ er den Überführten an seinem Posten – und erhielt im Tausch Informationen, Unterstützung, bessere finanzielle Mittel für all die Ausgaben, die er so hatte.
    Dieses System hätte vermutlich sogar Gennat eingeleuchtet, insgeheim zumindest. Gennat würde begreifen, dass ein Informant, ein Unterworfener hinter Gittern nicht viel wert war; draußen in der kriminellen Szene aber durchaus. »Wir und unsere Verbrecher« – das war eine Formulierung, die bei der Kripo niemand benutzt hätte, aber im Grunde kannte man seine Pappenheimer, und es wurde gemunkelt, dass der Gefangenenchor, der in Sträflingskostümen mit Pappmachékugeln an den Füßen bei der Pensionierungsfeier eines hochrangigen Kollegen gesungen hatte, wahrhaftig komplett aus polizeilich gesuchten Bankräubern und Dieben bestand, was den Spaß der Belegschaft, die ihre Pappmachéheimer selbstverständlich erkannt hatte, vervielfacht haben sollte.
    Belfort arbeitete ganz anders. Er machte im Grunde keine Ermittlungsarbeit, er führte einen Kreuzzug, und wer in dieser Stadt, diesem Land und dieser Welt die Guten und die Bösen waren, stand für ihn felsenfest. Dieser Charakterzug seines Kollegen war Sándor Lehmann fast sympathisch; Idealisten hielt er für dumm, aber nicht zwangsläufig für unsympathisch. Was Belforts flammendem Kampf allerdings einen fatalen Misston gab, war die Tatsache, dass er seine Unterscheidungskriterien zwischen Gut und Böse ganz offenbar nicht auf der Basis faktischen eigenen Wissens aufgebaut hatte, sondern auf den Hetzschriften undreden der Nationalsozialisten. Keine Frage, wenn man irgendeinen beliebigen Kommunisten, Juden, Jazzmusiker oder Homosexuellen nur lange genug auf den Kopf stellte und schüttelte, würde man nahezu überall auf Abwege, auf kleinkriminelle Indizien stoßen. Nur fand man die bei jedem anderen Menschen ebenso, und Sándor war sich sicher, dass die brüllenden

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