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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Schlafmangel definitiv selbst schuld war. Der Sanitäter, den sie bei größeren Razzien immer mitnahmen, hatte ihn nach dem gestrigen Knock-out begutachtet und für den Rest der Nacht krank geschrieben; aber bevor sie ihm noch einen Eisbeutel aus der Caféküche für den Heimweg holen konnten, war Sándor schon abwinkend die Friedrichstraße hinuntergestakst und in der Nacht verschwunden.
    Als die Caféetage im Moka Efti langsam die Stühle hochstellte und die Schicht zu Ende ging, saß der große Kerl mit den Kräuselhaaren unten in der Cocktailbar am Tresen mit seinem dritten grünen Escorial und wartete auf irgendwas. Die Frau in der Seidenhose, die nun keine Maske mehr vor dem Gesicht hatte, blieb einen Moment auf der Treppe stehen und betrachtete ihn aus der Distanz. Er schien, seitdem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, ein blaues Auge verpasst bekommen zu haben, das ihm einen etwas zerzausten, verwegenen Ausdruck gab, was ihr gefiel. Die platte Nase war allerdings wohl eher ein Mitbringsel aus frü heren Kämpfen. Das martialische Aussehen eines Raufboldes passte nicht so recht zu seinem ruhigen, schon etwas melancholischen Dasitzen, und irgendwas an ihm weckte fast Muttergefühl in ihr.
    Sie schüttelte sich fröstelnd und zog den dunklen Mantel enger um die Schultern. Muttergefühle waren das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Also drehte sie den Kopf zur Seite und verschwand durch die Tür auf die Straße, auf der der Automobilverkehr langsam nachgelassen hatte und das Stimmengewirr der Passanten einer nächtlichen Ruhe gewichen war, die nur noch vereinzelt von betrunkenem Gesang oder weiter entferntem Streit unterbrochen wurde. Es nieselte; Sommer konnte man das noch nicht nennen. Sie zündete eine schlanke Damenzigarette an, eine »Tusculum« von Garbaty, und im Aufflackern des Zündholzes betrachtete sie für Sekunden ihre eigenen Hände, abgearbeitet von einem Beruf, der ihr mehr Freundlichkeit und Wärme abverlangte, als sie selbst zu vergeben hatte oder zurückbekam. Ihre bläuliche Rauchwolke wirbelte aus dem Eingang des Moka Efti in die Nacht und wurde vom Sprühregen aufgelöst.
    Sie sah noch einmal durch die großen Scheiben hinein – er hatte ihr Fortgehen nicht bemerkt oder sich nicht anmerken lassen, dass er es bemerkt hatte –, warf die kaum angerauchte Zigarette dann nach nochmaligem Zögern in den Rinnstein und ging zurück in die Bar.
    Später stand sie – wieder mit Zigarette – am Fenster und sah gedankenverloren über die nächtliche Friedrichstadt. Die Leuchtreklamen der Friedrichstraße, von der sie eine kleine Ecke sehen konnte, flackerten trotzig weiter, auch wenn ihnen niemand mehr Beachtung schenkte und die grellen Versprechungen, die aufreizenden Silhouetten nicht mal mehr die Tauben von den Laternenmasten scheuchten. Über den Umrissen der Häuser gegenüber thronten behäbig und dunkel die Kirchtürme vom Gendarmenmarkt, und unten in den Seitenstraßen waren stille, verhüllte Gestalten unterwegs; Hungrige, die in den Abfalleimern und Toreinfahrten nach Resten von Essbarem suchten. Vereinzelte Pferdefuhrwerke klapperten geräuschvoll durch die Straße; der Müll wurde abgeholt. Drüben vom Bahnhof Friedrichstraße zog das Stampfen und Zischen der Nachtzüge herüber, und fröstelnde, verhüllte Reisende, deren Gemurmel sie zu hören glaubte, beeilten sich, von den Bahnsteigen hinunter in die wartenden Droschken und Taxis zu kommen. An der Schiffbauerdammbrücke, wo die Friedrichstraße die Spree überquerte, ließen die Lichter nach, es wurde dunkler; die Stadt schlief, auch wenn in der Oranienburger Straße noch in Kellerbars und Absteigen träges, betrunkenes Leben herrschte. Vom Fluss – auf dem Lastkähne im Schatten der Ufermauern schliefen – zog ein feuchter, nach Eisen und Schlamm schmeckender Atem herauf, den sie auf den nackten Schultern spürte; die Spree zog behäbig durch die Stadt, hatte mit ihren Bögen und Schwüngen den Straßen und Plätzen ihre Form aufgezwungen und war bei aller unbeleuchteten Unsichtbarkeit die eigentliche Lebensader dieses Millionengeschöpfs. Was sich an ihren Ufern emportürmte an Häusern, Türmen, Palästen, änderte sich mit den Jahrhunderten. Die Spree selbst änderte sich nie; sie floss immer vorwärts, dem Meer zu, auch wenn um sie herum

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