Black Bottom
nächste Gaslaterne, griff in die Hosentasche und zog ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier hervor, das in Jenitzkys Elite-Limousine in der Fuge des Rücksitzes gesteckt hatte. Er faltete das Blatt bedächtig auseinander, stutzte, erkannte die Schrift, überflog es weiter. Es war ein hektografiertes Tango-Arrangement für ihren gestrigen Auftritt in der Handschrift seines Freundes Julian Fuhs.
WAHLKAMPF
Es war der Sommer der Wahlplakate, der Aufmärsche, Versammlungen. In den StraÃen Berlins tobte ein Propagandakrieg, wie ihn Sándor und die ganze Stadt noch nie erlebt hatten, wie ihn vielleicht keine Stadt jemals erlebt hatte. Dr. Goebbels zog für die Nationalsozialisten die Fäden im Hintergrund; er hatte kein Lehrbuch zur Hand, denn was er machte, war neu und radikal modern. Das Ziel war nicht sachliche Argumentation, sondern die schiere Raserei. »Vervierfacht«, ein textlastiger Anschlag auf grellem rosafarbenem Papier, hatte im Frühling die StraÃen mit den Farben der Frühlingsblüte überschwemmt. Vervierfacht habe sich, so hieà es da, in nur einem Jahr die Zahl der NSDAP-Parteimitglieder, und weil die Partei keine Mitläufer suche, sondern zielbewusste, radikale Mitstreiter, werde ab sofort ein vierteljähriger Aufnahmestopp verhängt, um den gigantischen Zustrom in den Griff zu bekommen. Sensationell! Welche Partei leistete sich diese Unverfrorenheit, vor dem Ansturm zahlungswilliger Mitglieder einfach die Tür zu schlieÃen? Die Nazis nahmen nicht jeden, hatten Wartelisten, waren begehrt! Und wer warten musste, konnte die Zeit sinnvoll nutzen und die nationalsozialistischen Vorträge besuchen, geharnischte Eintrittspreise berappen â fünfzig Pfennig kosteten der Parteigenosse Wilhelm Kube und sein nationalsozialistischer Kampf um PreuÃen; eine ganze Reichsmark wurde für Goebbels oder den »Führer« höchstpersönlich aufgerufen. Erwerbslose zahlten zehn Pfennig. Sándor wäre nicht hingegangen, und wenn sie ihm Geld dafür gegeben hätten.
Vervierfachte Mitgliederzahlen! Solche Superlative konnten die Kommunisten nicht auf sich beruhen lassen. Ihre Zahlen waren keine Erfolgsmeldungen, sie beschrieben das Ausmaà der Verelendung. »20 Millionen zum Tode verurteilt«, schrie es in Orange von den LitfaÃsäulen, weil neue Steuern die materielle Existenz der 23 Millionen Werktätigen gefährdeten, »20.000 Deutsche begehen jährlich Selbstmord«, »Im Herbst hungern 5 Millionen« wegen Abbau der Arbeitslosen-Unterstützung. Tausende der leuchtenden Plakate für die Liste 4 hingen in der Stadt und wetterten mit aller Kraft gegen die »braune Mordpest«.
Die Sozialdemokraten hielten sich nicht mit langen Tiraden auf; ihr Wahlkampf setzte auf suggestive Bilder. »DAS sind die Feinde der Demokratie« übertitelte ihr Plakat das düstere Bild eines mordlustigen Trios: eines schwarz uniformierten Nazis mit gezücktem Dolch und Hakenkreuz am Käppi, eines olivgrünen Schreihalses mit rotem Stern an der Russenmütze â und des Todes selbst, der mit Stahlhelm und Bajonett hinter den beiden hervorlugte. »Hinweg damit! Wählt Sozialdemokraten!«
Wenn Sándor in diesem Sommer 1930 durch Berlin ging, war er einem Sperrfeuer an Parolen und visuellen Attacken ausgesetzt. Und zu den wütenden Wahlplakaten, die allesamt eine heraufziehende Katastrophe ausmalten â nur die Deutsche Volkspartei beschwor mit einem Bildnis des im letzten Jahr von Hunderttausenden zu Grabe getragenen Gustav Stresemann den friedlichen Brückenschlag zum »Erzfeind« Frankreich â, gesellten sich Parteizeitungen, deren Zeitungsjungen sich gegenseitig in den Dreck prügelten, fahrende Propagandawagen, Fahnen an den Häusern der Parteien und ihrer flammendsten Anhänger, öffentliche Versammlungen und Veranstaltungen aller Art. Plakate hatte es früher auch schon gegeben, doch diese Feldzüge, die von den groÃen Verlagshäusern mit Zeitungsartikeln und Schlagzeilen flankiert wurden, waren neu, und selbst unpolitische Bürger fieberten mit bei diesen temporeichen Auseinandersetzungen wie sonst nur beim Pferderennen im Hoppegarten.
Dass Jenitzky das Vorspiel seiner »ganz groÃen Bombe«, den Kapellenwettbewerb im Café Jenitzky, in diesem plakativen Umfeld überhaupt sichtbar machen konnte, grenzte an ein Wunder. Doch entweder durchbrach sein
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