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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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beschwingtes, grellbuntes Jazz-Plakat auch auflagenbedingt die Wahrnehmungsmauer – er hatte sich nicht lumpen und glatte fünftausend Stück plakatieren lassen, für ein einzelnes Konzert in einem sicher nicht mehr als zwölfhundert Leute fassenden Saal eine unerhörte Auflage –, oder die Leute lechzten nach Unterhaltung, nach Heiterkeit im aggressiven, in düsteren Farben getuschten politischen Bild auf den Straßen. »ERST tanzen – DANN wählen!« – fast spöttisch schien der beschwingte Entwurf die bierernsten Politparolen auf die Schippe zu nehmen, und die kapriziösen Damen und schneidigen Kerle, die da ein begnadeter Grafiker aufs Papier geworfen hatte, versprachen einen sorgenfreien Abend. Die Bandnamen, die in großen Lettern angekündigt waren, annoncierten die Spitzenkräfte des Berliner Musikgeschehens, für einen furiosen Abend vereint auf einer einzigen Bühne. Das war eine Sensation! Ob Jenitzky wirklich schon mit jedem einzelnen Bandleader die Teilnahme an seinem wahrhaftig mit 10.000 Reichsmark ausgelobten Wettbewerb ausgehandelt hatte – der zeitgleich vom Rundfunk in alle Haushalte gesendet werden sollte –, bezweifelte Sándor stark. Doch sämtliche Orchesterleiter, von Fud Candrix bis Kurt Widmann, von Otto Dobrindt bis Julian Fuhs, hatten offenbar kurzerhand entschieden: »Wenn die Kollegen dabei sind und zur besten Kapelle der Stadt gekrönt werden sollen, können wir das nicht auf uns sitzen lassen – wir müssen mitmachen. Schließlich sind wir selbst die Besten und nicht diese Notenblattableser.«
    Die Stadt lief heiß, und nicht nur temperaturmäßig. Wer Schriftsteller war, bekannte politisch Farbe – und lief Gefahr, höchstpersönlich Zielscheibe nationalsozialistischer Übergriffe zu werden. Der Ausdruckstanz trieb seine expressivsten Blüten auf der Bühne, und die Lichtspieltheater lockten die Massen an mit unerhörten neuen Toneffekten, die das Kino revolutionieren sollten – und mit immer knapperen Kostümen des weiblichen Personals; einer Freizügigkeit, die das große Publikum so noch nicht gesehen hatte. Es gab Salons, in denen Opium geraucht wurde, Makrobiotik gepredigt oder asiatische Heilslehren; es gab Nudistenzirkel in Weddinger Mietswohnungen, spektakuläre technische Neuerungen im Motor- und Flugsport, gewaltige Fortschritte in der Kommunikation zwischen Kontinenten und der Übertragung von Bild und Ton über Kabel und Antenne. Die Welt stand Kopf, nicht nur in Berlin – aber besonders in Berlin. Sándor sog diesen Irrsinn auf und ließ sich treiben, stolperte durch all die Etablissements und ihre grellen Versprechungen, sprach mit all den Verrückten, den Besserwissern und Wichtigtuern und suchte fieberhaft seinen verdammten Gasmörder.
    Wenn über der dampfenden, tosenden Stadt die Sonne unterging und der rote Feuerball trübe hinter dem Stahlgitter des Funkturms versoff, herrschte keine einzige Sekunde Ruhe. Die Nacht war nur die dunkle Hälfte eines 24-Stunden-Tages; auch in der Nacht ratterten die Druckmaschinen in der Friedrichstadt, erst in der Nacht drängten Schauspieler und Musiker zu Tausenden auf die Bühnen, während in den Hinterhöfen Hehlerei und Prostitution blühten und verzweifelte Arbeitslose zu Hunderten von Wettbüros ihr letztes Geld aufs falsche Pferd setzten.
    In der Nacht waren – mit abgeblendeten Scheinwerfern – schwarze Wagen unterwegs, die in Seitenstraßen hielten und ihre Insassen abseits der Gaslaternen aus dem Fond ließen.
    Stadtweit war es immer wieder das Gleiche; ein still heranrollendes Auto, ein schneller Angriff durch uniformierte Schlägertrupps der SA. Blutende Nasen und zertrümmerte Brillen auf dem Gehweg, wenn es ein jüdisches Theaterpublikum erwischt hatte, eine Stichflamme und lodernder Brand aus einem Zeitschriftenkiosk, wo es auch kommunistische Zeitungen zu kaufen gegeben hatte; Randale mit umgestürzten Tischen und geplünderter Kasse in einer Bierschwemme, wo nach einer Bezirksversammlung abends manchmal Sozialdemokraten saßen. Nicht nur im Wedding, in Kreuzberg, Neukölln: Auch mitten in der Innenstadt in Ost und West. Sechs Mann von der Augsburger Straße her, sechs Mann über einen Hinterhof aus Richtung Lietzenburger Straße, gemeinsamer Treffpunkt: die Nürnberger Straße, wieder einmal.
    Musikalisches Talent hatte Hertha Fuhs

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