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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Orange geklebt worden. Aber dann stellte ich fest, das sie schwach flackerten und pulsierten, und mir wurde klar, dass die Fensterscheiben zwar aus Plastik, doch völlig durchsichtig waren und von innen angestrahlt wurden – bestimmt war es Morris’ Lavalampe, die dieses unstete orangefarbene Licht verbreitete. Die meisten Kartons hatten allerdings überhaupt keine Fenster, vor allem, wenn man sich von der Treppe etwas weiter weg zur gegenüberliegenden Kellerwand bewegte. Dort drin war es sicher stockdunkel.
    In der nordwestlichen Ecke des Kellers erhob sich eine gewaltige Mondsichel, die alle anderen Kisten überragte. Sie war aus Pappmaschee und in einem wächsernen, leuchtenden Weiß angemalt. Der Mond hatte dünne, verkniffene Lippen und ein einzelnes trauriges, halb geschlossenes Auge, das uns mit einem Ausdruck vager Enttäuschung anzuschauen schien. Auf diesen Anblick war ich nicht gefasst. Ich war so verdutzt – der Mond war wirklich riesig –, dass ich eine ganze Weile brauchte, bis ich begriff, dass dies die große Kiste war, die einst den Mittelpunkt von Morris’ Krake gebildet hatte. Damals war sie mit einem Geflecht aus Hühnerdraht überzogen gewesen, das wie schiefe Hörner spitz zulief. Ich weiß noch gut, wie ich dachte, Morris’ enorme, unförmige Hühnerdrahtskulptur sei der unwiderlegbare Beweis dafür, dass es mit dem dürftigen Verstand meines Bruders endgültig bergab ging. Jetzt wurde mit jedoch klar, dass sie schon immer wie ein Mond ausgesehen hatte – jeder Mensch mit zwei gesunden Augen hätte das sehen können – nur ich nicht. Ich glaube, das war schon immer eine meiner entscheidenden Schwächen: Wenn ich irgendwas nicht gleich begriff, gelang es mir später nicht mehr, über das, was mich irritiert hatte, hinwegzusehen, um die dahinterliegende Struktur – sei es bei einem Bauwerk, sei es in meinem eigenen Leben – zu durchschauen.
    Direkt an der Treppe befand sich der Eingang zu Morris’ Pappkatakomben: eine große Kiste, knapp anderthalb Meter hoch. Sie lag auf der Seite, mit weit offenen Klappen, die wie eine Flügeltür aussahen. Ein schwarzes Musselintuch hing vor dem Eingang, so dass ich nicht in den Tunnel hineinblicken konnte, der von der Kiste in das Labyrinth führte. Von weit entfernt hörte ich Musik, eine leise, einlullende Melodie. Ein tiefer Bariton sang: » Die Ameisen marschieren, eins und zwei, hurra! Hurra! « Ich brauchte einen Moment, bis mir bewusst wurde, dass die Musik von irgendwo aus dem Tunnelsystem kam.
    Ich war so platt, dass ich nicht mehr länger wütend auf Morris sein konnte, weil er sich das Bild von Mindy Ackers unter den Nagel gerissen hatte; ich war schlicht so erstaunt, dass es mir die Sprache verschlagen hatte.
    Eddy fand als Erster seine Stimme wieder. »Der Mond ist ja unglaublich!« Er klang so, wie ich mich fühlte – außer Puste vor Überraschung. »Morris, du bist ein verdammtes Genie.«
    Morris stand rechts von uns, das Gesicht ausdruckslos, den Blick auf die weitläufige Kartonlandschaft gerichtet. »Ich hab dein Bild in meiner neuen Festung aufgehängt. In der Galerie. Ich wusste nicht, dass du es wiederhaben möchtest. Kannst du aber, wenn du willst.«
    Eddy warf Morris einen kurzen Blick zu, und sein Grinsen wurde breiter. »Du hast es da drin versteckt, und ich soll’s finden, was? Du bist wirklich ein merkwürdiges Kerlchen, weißt du das, Morrie?« Er sprang die letzten drei Stufen hinunter, fast tänzelnd wie Grace Kelly. »Wo ist die Galerie? Dort drüben, im Mond?«
    »Nein«, sagte Morris. »Nicht in dieser Richtung.«
    »Jaja.« Eddy lachte. »Klar doch. Was für Bilder hast du da sonst noch hängen? Ein paar Playmates? Hast du da drin dein ganz privates Zimmerchen, um dir einen runterzuschütteln?«
    »Mehr will ich nicht verraten. Ich will euch die Überraschung nicht verderben. Du solltest es dir selbst anschauen.«
    Eddy sah mich fragend an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte – zu meinem Erstaunen verspürte ich eine zaghafte Erregung, die sich mit leichter Beklommenheit mischte. Einerseits wollte ich, dass Eddy in Morris’ verwinkelter, großartiger Festung verschwand, andererseits fürchtete ich mich davor. Eddy schüttelte den Kopf – dieser ganze Schwachsinn ist ja nicht zu fassen – und kauerte sich hin. Er machte Anstalten, auf allen vieren durch den Eingang zu kriechen, blickte dann aber noch einmal zu mir zurück. Zu meiner Überraschung zeichnete sich auf seinem Gesicht ein fast kindhafter

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