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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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hindurchblicken können, sie überhaupt nicht gesehen hat. Einige dieser Schwindler erzählen auch, ihr sei Blut aus der Nase, den Ohren, den Augen gelaufen; und sie hätte ihnen einen flehentlichen Blick zugeworfen und sie gebeten, Hilfe zu holen. Aber so blutet sie nicht, und wenn sie etwas sagt, dann bittet sie bestimmt nicht um einen Arzt. Meistens fangen diese Hochstapler ihre Geschichte mit den Worten an: Sie werden nicht glauben, was ich gerade gesehen habe. Und sie haben recht, er glaubt es ihnen nicht, auch wenn er mit einem geduldigen, ja sogar ermunternden Lächeln allem lauscht, was sie zu sagen haben.
    Diejenigen dagegen, die sie wirklich gesehen haben, machen sich nicht auf die Suche nach Alec, um ihm davon zu erzählen. Eher findet er sie, läuft ihnen über den Weg, wenn sie mit unsicheren Schritten durch das Foyer wanken. Sie fühlen sich nicht gut, sie haben einen Schock erlitten, sie müssen sich für einen Moment setzen. Und sie sagen nicht: Sie werden nicht glauben, was ich gerade gesehen habe, denn das, was sie gerade gesehen haben, ist ihnen nur allzu gegenwärtig; erst später denken sie daran, dass ihnen vielleicht niemand glauben wird. Sie befinden sich in einem Zustand, den man als » überwältigt « oder » demütig « bezeichnen könnte. Wenn Alec überlegt, was für eine Wirkung sie auf diejenigen hat, die ihr begegnen, muss er immer an Steven Greenberg denken, wie er an jenem kühlen Sonntag nachmittag im Jahre 1963 aus Die Vögel kam. Damals war Steven zwölf; bis er berühmt werden würde, sollte es noch weitere zwölf Jahre dauern.
    Alec rauchte gerade in der Gasse hinter dem Rosebud eine Zigarette, als er hörte, wie die Brandschutztür zum Kino aufging. Er wandte sich um und sah einen schlaksigen Jungen auf der Schwelle stehen. Mit dem erstaunten Blick eines kleinen Kindes, das gerade aus tiefem Schlaf wachgerüttelt worden war, lehnte er gegen den Türrahmen und blinzelte in das grellweiße Sonnenlicht. Alec konnte an ihm vorbei in eine Finsternis sehen, die vom schrillen Gezwitscher Tausender Spatzen erfüllt war. Etwas gedämpfter hörte er, wie einige der Zuschauer unruhig wurden, sich beschwerten.
    Hey, Kleiner, rein oder raus?, sagte er. Du lässt das Licht rein.
    Der Junge – Alec wusste seinen Namen nicht – wandte den Kopf und warf einen langen, forschenden Blick zurück in den Vorführsaal. Dann kam er heraus – die Tür mit den Druckluftangeln fiel sanft hinter ihm ins Schloss – und blieb unschlüssig neben Alec stehen. Die Vögel lief im Rosebud seit zwei Wochen, und Alec hatte schon Zuschauer vorzeitig hinausgehen sehen, aber keine zwölfjährigen Teenager – auf einen solchen Film freuten sich Jungs in diesem Alter doch das ganze Jahr lang. Aber vielleicht hatte dieses Kerlchen ja auch einen empfindlichen Magen.
    Ich hab meine Cola dringelassen, sagte der Junge leise, fast tonlos. Sie war noch fast halb voll.
    Willst du noch mal rein und sie holen?
    Der Junge blickte auf und sah Alec erschrocken an, und da wusste Alec Bescheid. Nein.
    Alec rauchte seine Zigarette zu Ende, schnippte sie weg.
    Ich hab neben einer Toten gesessen.
    Alec nickte.
    Sie hat mit mir gesprochen.
    Was hat sie gesagt? Erneut musterte Alec den Jungen, der mit großen, runden Augen ungläubig zurückstarrte.
    Ich muss mit jemandem reden, hat sie gesagt. Wenn mich ein Film fasziniert, muss ich darüber reden.
    Sie will immer über Filme sprechen. Meistens mit Männern, doch manchmal setzt sie sich auch zu einer Frau – vor allem zu Lois Weisel. Alec arbeitet da an einer Theorie, die erklären soll, wann sie sich zeigt. Auf einem gelben Notizblock führt er eine Liste mit den Personen, denen sie erschienen ist, dem Zeitpunkt und dem Film, der gerade gespielt wurde (Leland King, Harold und Maude, ’72; Joel Harlowe, Eraserhead, ’76; Hal Lash, Blood Simple, ’84; und so weiter). Er hat im Laufe der Jahre eine ziemlich klare Vorstellung entwickelt, unter welchen Bedingungen sie am ehesten auftaucht, auch wenn er seine Theorie in Einzelheiten immer wieder revidieren muss.
    In jungen Jahren war es unmöglich für ihn, nicht fortwährend an sie zu denken. Als das Kino dann ein Erfolg wurde und er als Geschäftsmann in der Stadt eine bedeutende Rolle spielte, wurde es für eine Weile besser; manchmal gelang es ihm sogar, sie für etliche Wochen aus seinem Kopf zu verdrängen. Doch dann wurde sie auf einmal von jemandem gesehen, oder jemand behauptete, sie gesehen zu haben – und alles war

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