Black Box
Dann erschien ein Typ in gestärktem Hemd und erzählte dem Publikum, was für eine völlig neue Form von Unterhaltung sie erwartete. Er faselte etwas von Walt Disney und seinen Zeichnern, und kurz darauf schmetterte das Orchester eine dramatische Streicher- und Bläserouvertüre, während Alec immer tiefer in seinen Sessel rutschte. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Das war nicht nur ein Musical, sondern auch noch ein Zeichentrickfilm! Natürlich war es ein Zeichentrickfilm, das hätte ihm ja klar sein müssen: Es war mitten in der Woche, die Nachmittagsvorstellung, das Kino war randvoll mit Kindern, und im Vorfilm sang ein Cowboy Weiberkram über die Hochebenen.
Durch seine Finger sah er auf die Leinwand, sah silberfarbene Regentropfen vor wallenden Rauchwolken, Strahlen geschmolzenen Lichts, die über einen aschefarbenen Himmel glitten. Schließlich setzte er sich auf, um sich das alles in einer bequemeren Haltung anzusehen. Er wurde aus seinen Gefühlen nicht ganz schlau. Einerseits langweilte er sich, andererseits zogen ihn diese Bilder auf merkwürdige Weise an. Es wäre ihm schwergefallen, nicht hinzublicken, denn was er da sah, kam einem hypnotischen Angriff gleich: Wellen von rotem Licht, wirbelnde Sterne, Wolkenkönigreiche, die im purpurnen Licht der untergehenden Sonne leuchteten.
Die Kinder im Kino wurden allmählich unruhig, sie kamen sich wohl vor wie in der Schule. Ein kleines Mädchen sagte: »Mama, wann kommt denn Micky?« Alec jedoch – der Film war inzwischen beim nächsten Teil angelangt, das Orchester wechselte von Bach zu Tschaikowsky – saß nun völlig aufrecht in seinem Stuhl, sogar ein wenig nach vorne gebeugt, die Unterarme auf die Knie gestützt. Feen huschten durch einen dunklen Wald, berührten Blumen und Spinnennetze mit Zauberstäben und verteilten überall weiß schimmernden Tau. Er sah ihnen gebannt zu und empfand dabei eine sonderbare Sehnsucht – dass er für immer hier sitzen und sich diesen Film anschauen könnte.
»Ich könnte bis in alle Ewigkeit hier sitzen«, flüsterte jemand neben ihm. Es war eine Mädchenstimme. »Einfach nur dasitzen, niemals fortgehen.«
Alec zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte. Und er war sich ganz sicher, dass die beiden Plätze neben ihm leer gewesen waren, als er sich hingesetzt hatte.
Sie war höchstens ein paar Jahre älter als er, nicht über zwanzig, und sein erster Gedanke war: Was für ein hübscher Käfer! Dass so ein Mädchen mit ihm sprach, ließ sein Herz schneller schlagen. Vermassel das jetzt nur nicht, dachte er. Doch sie sah ihn nicht an, sondern blickte unverwandt zur Leinwand, in ihrem Lächeln lag das benommene Staunen eines Kindes. Er wollte irgendetwas Intelligentes sagen, aber brachte nichts heraus.
Ohne den Blick von der Leinwand abzuwenden, beugte sie sich zu ihm, wobei ihre linke Hand ganz leicht seinen Arm auf der Lehne berührte.
»Tut mir leid, dass ich dich störe«, flüsterte sie, »aber wenn mich ein Film fasziniert, muss ich darüber reden. Ich kann einfach nicht anders.«
In diesem Augenblick fielen ihm zwei Dinge auf: Die Hand auf seinem Arm war eiskalt; er konnte die Kälte sogar durch seinen Pullover hindurch spüren. Und er sah auf ihrer Oberlippe direkt unter dem linken Nasenflügel einen Blutstropfen.
»Sie haben Nasenbluten«, sagte er mit viel zu lauter Stimme. Und sofort verfluchte er sich dafür. Wenn man ein so hübsches Mädchen beeindrucken wollte, hatte man nur eine Chance. Er hätte etwas hervorzaubern sollen, mit dem sie ihre Nase abtupfen konnte, und hätte es ihr mit einem Sinatra-Spruch reichen sollen: Sie bluten – hier … Er durchwühlte seine Hosentaschen nach etwas Brauchbarem, fand jedoch nichts.
Offenbar hatte sie ihn aber ohnehin nicht gehört, ja, sie schien nicht einmal registriert zu haben, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Geistesabwesend fuhr sie sich mit dem Handrücken über den Mund. Auf ihrer Oberlippe blieb ein verschmierter Blutfleck zurück. Die Hände immer noch in den Hosentaschen, starrte Alec sie an. Langsam wurde ihm klar, dass mit dem Mädchen, das da neben ihm saß, etwas nicht stimmte – dass das, was sich zwischen ihnen abspielte, irgendwie verrückt war. Instinktiv setzte er sich auf und drehte seinen Oberkörper leicht von ihr weg.
Sie lachte über etwas, das auf der Leinwand geschah, ihre Stimme weich, atemlos. Dann beugte sie sich zu ihm und flüsterte: »Das ist doch überhaupt nichts
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